Ein Kinderheim in Jerusalem zwischen 1947 und 1994 ist Schauplatz von Miral, dem neuen Film des US-Starkünstlers Julian Schnabel, der bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte – nach viel Vorschusslorbeeren infolge früherer Filme Schnabels wie Basquiat und Schmetterling und Taucherglocke eine der größten Enttäuschungen des Wettbewerbs. La strada dei fiori di Miral heißt der Roman der palästinensisch-italienischen Journalistin Rula Jebreal, der 2004 zum Überraschungserfolg in Italien wurde. Die titelgebende Figur ist angelehnt an Jebreal und ihre traumatische Kindheit: ein Mädchen aus dem Heim, das zur Intifada-Kämpferin wird. Vielleicht entwirft ja Jebreals 400-Seiten-Roman ein differenziertes Bild – der Film ihres Lebensgefährten Schnabel tut es jedenfalls nicht.
Eher erfüllt das auch künstlerisch missglückte, vor visuellen Manierismen strotzende Werk alle Klischees greller Polit-Exploitation: Ein Schmachtschinken aus allzu schönen, allzu glatten Figuren, die oft nur dazu dienen, moralische Thesen und politische Standpunkte aufzusagen. Schlimmer aber: Ein nervtötend einseitiges Werk, das ein völlig verzerrtes Bild des Nahostkonflikts zeichnet, in dem säuberlich zwischen Opfern (Palästinenstern) und Tätern (Israelis) unterschieden wird: Dauernd sieht man araberhassende, prügelnde, folternde und ballernde, überdies hässliche, fette, verschwitzte Israelis, aber keinen einzigen Palästinenser, der einem Israeli etwas zuleide tut. Dafür lauter humanistische, gutwillige, friedensdürstende (und schöne) Araber. So ist Miral das jüngste Beispiel für das philo-palästinensische und zumindest im Ergebnis antiisraelische Engagement eines jüdischen Künstlers aus dem Westen.
flucht Da ist Essential Killing von anderem Kaliber. Der Film des Polanski- und Wajda-Gefährten Jerzey Skolimowski, der 1967 in Berlin den Goldenen Bären für The Departure gewann, beginnt wie ein Western: Drei Männer in der Wüste, man sieht sie nur von fern. Als die Kamera näher kommt, wird klar, dass es sich um US-Soldaten handelt, die in einem nicht näher bezeichneten Land nach Minen suchen. Gerade als man sie näher kennenlernt, zerfetzt sie eine Bazookagranate: Nun steht der Attentäter im Zentrum. Nach wenigen Minuten ist er gefasst und befindet sich irgendwo in Polen in einem US-Geheimgefängnis. Als ein Gefangenenkonvoi verunglückt, kann er ausbrechen – und nun geht, nach etwa einer Viertelstunde, der Film überhaupt erst richtig los: Einer gegen alle, ein Mensch auf der Flucht wie ein Tier, gehetzt von hochgerüsteten Verfolgern, anfangs barfuß in einer Schneelandschaft, begleiten wir über ein paar Tage einen Mann, der ums Überleben kämpft. Der sich von Rinde, Termiten und rohem Fisch ernährt, auf der Flucht drei Verfolger tötet, mit dem Fuß in eine Tierfalle tritt, einen hohen Abhang hinunterstürzt.
Die kleine Sensation, die Skolimowski in seinem hochspannenden, zugleich minimalistischen und extrem dynamischen Hochdruck-Film gelingt, ist, wie wir Zuschauer mit einem Menschen zu sympathisieren beginnen, den wir zu Beginn als Mörder kennen und zu verabscheuen gelernt haben. In dem Einzelnen auf der Flucht sieht man bald nicht mehr den – vielleicht fanatischen, vielleicht gezwungenen – Islamistenkrieger, sondern etwas ganz Existenzielles: das universale Leid der menschlichen Kreatur, einen Underdog, der gegen alle Wahrscheinlichkeit um sein Leben kämpft. Nicht anders als dieser einsame, angsterfüllte Mann fliehen seit Jahrhunderten Menschen aus irgendeiner Gefangenschaft. Es könnte sich auch um den Häftling eines deutschen Vernichtungslagers handeln, oder um einen seiner Bewacher, der ein paar Jahre später aus sowjetischer Gefangenschaft zu entkommen sucht. Die polnischen Wälder haben all das, und vieles mehr, schon gesehen.
Essential Killing, dem man unbedingt einen deutschen Kinostart wünscht, war offensichtlich nach dem Geschmack von Quentin Tarantino. Der Präsident der internationalen Jury lobte den Film, der mit zwei Preisen – »Spezialpreis der Jury« und »Bester Darsteller« für Vincent Gallo – ausgezeichnet wurde, voller Enthusiasmus: »Das war kein typisches Arthouse-Kino, das war muskulöses Kino, das war schmerzhaft und berührte uns in einer körperlichen Weise, der wir uns nicht entziehen konnten.«
Albtraum Ähnlich euphorisch fiel auch Tarantinos Lob für den zweiten Film aus, der doppelt prämiert wurde: Balada triste de un trompeta von Alex de la Iglesia ist in vielem das Gegenteil von Essential Killing, aber ähnlich radikal und wagemutig: Die Geschichte eines Zirkus und dreier Clowns kreuzt der Regisseur mit der Spaniens seit Ende des Bürgerkriegs 1939, vor allem aber der Spätphase des Franco-Faschismus 1973–75. Ein Film wie ein Albtraum: grell, expressiv und ein bisschen irre. Ein opulenter Exorzismus, der sich am Teufel Franco und seinen Spuren in Spaniens Gesellschaft bis heute abarbeitet.
Das entsprach dem generellen stilistischen Trend, der in Venedig in diesem Jahr klar wegführte von meditativer Kunststrenge hin zum Schnellen, Überladenen. Im Zweifel trägt man auf der Leinwand lieber etwas zu dick auf als zu dünn. Da wirkte der Goldene Löwe für Sofia Coppolas Somewhere wie ein guter Kompromiss: Aus Einsamkeit und Burn-out eines Hollywoodstars wird in den Händen der 38-jährigen Regisseurin das Drama des modernen Menschen des Westens, der alles hat und doch nicht weiß, wie er glücklich sein kann.