Das Erste, was an Leon Botstein auffällt, ist nicht sein äußeres Erscheinungsbild, das dem eines Akademikers entspricht, der es gewohnt ist, im Rampenlicht zu stehen: schwarz umrandete Designerbrille, dunkler Maßanzug mit Fliege und handgefertigte Budapester. Auch nicht seine Gestik, die den Musiker verrät, der seinen Worten mit lockeren Handbewegungen Flügel verleiht. Es ist vielmehr Botsteins sonore Stimme, der man stundenlang zuhören möchte, weil sie so frei von allen Zweifeln zu sein scheint. Kein leises Räuspern stört den Strom der Gedanken.
Doch dieser äußere Eindruck täuscht. Frei von Zweifeln oder Brüchen ist Leon Botstein nicht, weder als einer der führenden US-Musikhistoriker mit dem Schwerpunkt »Musik aus Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert«, noch als Dirigent, der entlegenste Musikschätze zur Aufführung bringt. Und erst recht nicht als Privatmann, der als Kind jüdischer Emigranten 1946 in der Schweiz geboren wurde und in den USA aufwuchs. Dieser Mann ist wegen seiner Vielschichtigkeit schwer mit ein paar Worten zu fassen.
festival Am besten schaut man sich den Ort an, an dem Botstein die meiste Zeit verbringt, Annandale-on-Hudson. Spätestens seit den Tagen der »Hudson River School« für Landschaftsmalerei Mitte des 19. Jahrhunderts ist dieses Provinzstädtchen der amerikanische Sehnsuchtsort schlechthin. Dort ist, nicht ganz zufällig, das Bard College beheimatet, das zu Amerikas führenden Universitäten der Freien Künste zählt. Leon Botstein ist seit 1975 Präsident der Universität. An diesem Ort, von New York aus nur zwei Stunden den Hudson River flussaufwärts, hat der Stararchitekt Frank O. Gehry ein dekonstruktivistisches Meisterwerk verwirklicht: einen multifunktionalen Konzertsaal, der von den Studenten des Bard College bespielt wird.
In diesem amerikanischen Arkadien organisiert Botstein seit 1990 das Bard Music Festival, bei dem jährlich ein anderer Komponist im Fokus steht. An Namen wie Wagner oder Schubert reihen sich Komponisten, die Botsteins vielschichtiges Interesse spiegeln, darunter viele Neutöner des 20. Jahrhunderts wie Belá Bartók, Camille Saint-Saëns oder Aaron Copland. Mit einem derart ambitionierten Programm wäre in der Alten Welt kaum ein Klavierzimmer mit Hörern zu füllen. In den USA dagegen konnte Botstein eines der erfolgreichsten Klassikfestivals etablieren.
Dazu passen auch die Programme, die Leon Botstein als Chef des American Symphony Orchestra und Ehrendirigent des Jerusalem Symphony Orchestra anbietet. Gerade durch das Unerwartete tritt Botstein aus der Masse der Dirigenten hervor. Botstein folgt seiner Neugier. Schon immer hat er sich gefragt, sagt er, warum jahraus, jahrein immer nur dieselben Meister gespielt werden.
partituren Diese Neugier war bei ihm schon als Kind ausgeprägt. Leon Botstein ist der Spross einer osteuropäischen jüdischen Familie. Der Ururgroßvater war noch Oberrabbiner von Moskau, die Nachfahren assimiliert. Wie im jüdischen Großbürgertum üblich, erhielten auch bei Botsteins die Kinder eine gediegene musikalische Ausbildung. Dann kam der Krieg. »Ich war der Jüngste, als wir in die Schweiz emigrierten. Die deutsche Sprache war sehr schwierig. Ich stotterte. So wurde meine natürliche Sprache die Musik.«
Leon Botstein, der inzwischen übrigens tadellos Deutsch spricht, träumte zunächst davon, Komponist zu werden. »Als Teenager habe ich mir riesige Symphonien ausgedacht: abscheulicher, sentimentaler Dreck!« Als es mit der Zwölftonkammermusik auch nicht recht gelingen wollte, gestand sich Botstein ein, dass er »als Komponist nichts zu sagen« hatte. Jetzt drängte es ihn in eine andere Richtung: »Was mich wirklich interessierte, war das Studium von Partituren. Nicht nur Beethoven und Brahms. Vielmehr unbekannte Partituren, die ich in der öffentlichen Musikbibliothek in New York studierte: Zemlinksi, Schreker, Magnard – nicht das Übliche. Das war eine Leihbibliothek, und ihre Werke waren quasi unberührt.«
erinnerung Viele dieser Stücke stammten von jüdischen Flüchtlingen und waren in einer fernen Welt entstanden, von der in den Gesprächen innerhalb der Familie immer die Rede war. Eine untergegangene Welt, die die Fantasie des Kindes schon früh beflügelt hatte. »Meine Großmutter erzählte, dass sie als junge Dame Alexander Skrijabin im Bolschoi-Theater gehört hatte. Und mein Vater ging im Frack zur Premiere von Richard Strauss’ ›Die ägyptische Helena‹. Sehr viel später habe ich dann die erste moderne Einspielung dieser Oper mit Deborah Voigt gemacht. Diese Legenden einer verschwundenen Welt – ich wollte sie zum Leben erwecken.«
So auch im Mai bei einem Konzert zum 70. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden in Budapest. Zur Aufführung kamen ungarische Komponisten, die der Schoa zum Opfer gefallen sind. Ihre Werke sind in Vergessenheit geraten. Oder wer kennt heute noch Lázló Weiner, Lázló Gyopar, Mihály Nádor und Ödön Pártós? »Die klassische Musik ist total hollywoodisiert«, ärgert sich Botstein über den Klassikbetrieb. »Immer dieselben Stars. Ekelhaft. Keine Kunst. Wir leben in einem Museum mit 100 Räumen, von denen 90 geschlossen sind.«
wissenschaft Dabei ist Leon Botstein selbst ein Teil dieses Klassikbetriebes. Das weiß er. Wenn er dennoch innere Distanz wahrt, hängt das vielleicht mit seiner Familie zusammen, die auf völlig anderen Gebieten arbeitet. Seine Schwester ist Medizinerin, sein Bruder ein bekannter Humangenetiker. Schon Botsteins Mutter hat Medizingeschichte geschrieben, als sie in der Schweiz Assistentin des berühmten Kinderarztes Guido Fanconi war. Sie konnte als Erste nachweisen, dass Mukoviszidose erblich ist, auch wenn ihr Chef als Entdecker dieser Lungenkrankheit gilt.
Auch Botstein publiziert wissenschaftlich. Er gibt das »Music Quarterly« heraus und schreibt Bücher wie Judentum und Modernität: Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur, 1848 bis 1938 (Böhlau 1991) oder Von Beethoven zu Berg. Das Gedächtnis der Moderne (Zsolnay 2013). In diesen und anderen Publikationen geht er seiner Faszination für selten gespielte Musik nach. Berührungsängste kennt er dabei nicht. 2009 hat Leon Botstein mit seinem American Symphony Orchestra »Musik des anderen Deutschland« aufgeführt. Darunter nicht nur Paul Dessaus »Haggadah shel Pesach«, sondern auch Hanns Eislers »Auferstanden aus Ruinen«, die Nationalhymne der DDR. In deutschen Konzertsälen wäre das undenkbar.