Literatur

Thomas Mann und der Zionismus

Viel ist in der Forschung vom widersprüchlichen Verhältnis des Autors zu allem Jüdischen die Rede. Komplett unterbeleuchtet ist, dass der Autor glühender Unterstützer des jüdischen Staates war

von Kai Sina  20.06.2021 06:50 Uhr

»Ein großer und schöner Plan«: Thomas Mann Foto: imago images/KHARBINE-TAPABOR

Viel ist in der Forschung vom widersprüchlichen Verhältnis des Autors zu allem Jüdischen die Rede. Komplett unterbeleuchtet ist, dass der Autor glühender Unterstützer des jüdischen Staates war

von Kai Sina  20.06.2021 06:50 Uhr

Wenn es um Thomas Manns hochkomplexes Verhältnis zum Judentum geht, scheint heute jeder Vorwurf, jedes noch so pauschale Urteil gerechtfertigt. Dies zeigte sich bei einer jüngst vom Thomas-Mann-Haus in Los Angeles angeregten Online-Debatte über Manns große Rede zu »Deutschland und die Deutschen« von 1945, in der er die Entstehung des Nationalsozialismus aus dem Geist der deutschen Innerlichkeit zu erklären versuchte.

Warum, so monierten einige Kritiker mit betroffener Geste, sprach Mann in seiner Rede nicht ausdrücklich von der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden?

radioreden Unter der Hand ist damit nahegelegt, Thomas Mann habe die Gräueltat des Judenmords in seiner Rede unter den Teppich kehren wollen – ausgerechnet er, der in seinen Radioreden als einer der ersten Intellektuellen die deutsche und die Weltöffentlichkeit auf die Schande der Konzentrationslager hingewiesen und bereits 1943 in einer Rede vor 10.000 Zuhörern in San Francisco die »wahnsinnige Entschlossenheit zur totalen Ausrottung des europäischen Judentums« angeklagt hatte.

Thomas Manns Begegnung mit dem Münchener Zionisten Elias Straus änderte alles.

Man muss mit Thomas Manns Deutschland-Rede nicht in allen Punkten übereinstimmen, beileibe nicht, und über die oft klischeehafte, mit Negativstereotypen behaftete Zeichnung einiger jüdischer Figuren in seinen literarischen Werken wurde zu Recht viel Kritisches gesagt, am nachdrücklichsten vielleicht von Ruth Klüger.

Ihm aber zu unterstellen, und sei es nur zwischen den Zeilen, es gebe in seiner Bewertung der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden eine implizite Tendenz zur Marginalisierung, ist in hohem Maße verzerrend – und ganz einfach ungerecht.

BAYERN In besonderer Schärfe zeigt sich dies vor einem Hintergrund, der selbst in der Forschung nur selten berücksichtigt wird, obwohl die Quellen bereits seit Längerem gut aufgearbeitet sind, namentlich in einem Aufsatz des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Mark H. Gelber aus den 80er-Jahren.

Die Rede ist von Manns entschiedener Unterstützung des Zionismus, die ihn nach 1933 – auch dies sollten heutige Kritiker bedenken – selbst in eine bedrängliche Lage gebracht hat: Einer der Gründe im Antrag des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 18. Januar 1934 auf Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft war seine Mitgliedschaft im »Deutschen Komitee Pro Palästina« und sein öffentliches Eintreten für dessen Hauptziel, die »Förderung der jüdischen Palästinasiedlung«. In der seit Jahrzehnten differenziert geführten Debatte über Thomas Mann und das Judentum verdient dieser Aspekt mehr Beachtung.

1907 erschien Thomas Manns weiterhin umstrittener Essay »Die Lösung der Judenfrage«. In ihm äußerte er sich noch skeptisch über die »Zionisten von der strengen Observanz«, denn ein völliger Exodus der Juden bedeutete den Verlust eines »unentbehrlichen … Kultur-Stimulus« für Europa, insbesondere für Deutschland.

kontext Betrachtet man den Essay im Ganzen, steht diese Aussage im zwiespältigen Kontext eines »laut proklamiertem Philosemitismus« und eines »im selben Atemzug vorgebrachten Katalogs antisemitischer Stereotype«, wie Heinrich Detering zusammenfasst, beginnend schon bei der im Titel aufgestellten Behauptung, es gebe so etwas wie eine jüdische »Frage«, die nunmehr einer »Lösung« zugeführt werden müsse.

In den folgenden Jahrzehnten überdachte Thomas Mann diese Sicht, und zwar grundlegend. Entscheidend hierfür war die Vorbereitung seiner Arbeit am Josephsroman in den 20er-Jahren, die ihn unter anderem mit dem Münchener Zionisten Elias Straus zusammenbrachte.

Dieser war es vermutlich auch, der Mann für das Palästina-Komitee gewinnen konnte, bei dessen Gründungsakt im Dezember 1926 der Vorsitzende Kurt Blumenfeld aus einem Begrüßungstelegramm vortrug, in dem sich Mann zu der Vereinigung und ihren Zielen bekannte: »Ich kann nur sagen, man braucht weder Zionist noch überhaupt Jude zu sein, um den Gedanken, das Land aus seiner Öde zu wecken, in dem sich seit den Tagen des getriebenen Menschen, der aus der babylonischen Mondstadt dort einwanderte, bis zum Kreuzestod des Nazareners eine so gewaltige, menschheitsgeschichtliche Entwicklung abgespielt hat, ich sage: um diesen Plan groß und schön und rührend und fördernswert zu finden. Um so weniger, sollte ich denken, brauchten deutsche Juden, in deren Blut die Erinnerung an dieses Urheimatland lebendig ist, zu fürchten in ihrem Deutschtum bezweifelt zu werden, wenn sie den Plan unterstützen.«

palästina Die Reaktionen auf diese und vergleichbare Äußerungen aus demselben Zeitraum fielen zum Teil äußerst kritisch aus. So berichtete Mann in einem Brief an Martin Buber von heftigen Attacken gegen seine Person, und zwar gerade vonseiten des deutschen Judentums, das in der Frage des Zionismus tief gespalten war – weshalb er sich entschlossen habe, dem »Pro Palästina Komitee« zwar weiterhin anzugehören, aber sich öffentlich nicht mehr »für diese strittige Sache« einzusetzen.

Dies galt zumindest für die kommenden zwei Jahre. Thomas Manns Reise nach Palästina im Jahr 1930, die im Wesentlichen der Recherche für Joseph und seine Brüder diente, begleiteten eine Reihe von Interviews, in denen er seine Anerkennung für die zionistische Aufbauleistung zum Ausdruck brachte, etwa im Hinblick auf die Hebräische Universität in Jerusalem oder die junge Stadt Tel Aviv.

Wie schon zuvor ging es ihm dabei aber weniger um einen politischen, als einen spirituellen Zionismus: Nicht »um zu erobern« seien die Juden ins Land gekommen, betonte er in einem Gespräch, sondern »um sich zu erfüllen, sich seelisch zu befreien«.

nationalstaat Über die gesamten 30er- und 40er-Jahre hinweg, ja, selbst noch während der ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs, äußerte sich Mann zurückhaltend, teils auch explizit ablehnend zur Idee eines jüdischen Nationalstaats. »The Jews are a cosmopolitan people«, schrieb er 1942 in einem Brief an den jüdischen Philanthropen Jacob Billikopf, »the foundation of a national state is below the real task of Jewry«.

Gegen den politischen Zionismus sprach für Mann der erhoffte Beitrag der Juden zu einer neuen, sozialen und gerechten Weltgemeinschaft, die es nach dem Krieg und dem sich abzeichnenden Niedergang der Nationalstaaten aufzubauen gelte.

Wegen seiner Position wurde Mann heftig attackiert – insbesondere von deutschen Juden.

Einen markanten Wandel dieser Posi-tion vollzieht Mann, als die Schrecken und das Ausmaß der Schoa nicht mehr anzweifelbar waren. Dokumentiert ist dies in einem Beitrag für eine dem Zionistenführer und späteren israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizmann gewidmete Festschrift aus dem Jahr 1944, der »An Enduring People« (»ein beständiges« beziehungsweise »ausdauerndes Volk«) überschrieben ist.

zerstreuung In ihm bezeichnet Mann die Idee des Zionismus, nun verstanden als »nationale Konzentration der Juden an einem anderen Ort als dem der Zerstreuung«, als »heute nicht länger kontrovers«.

Dass diese Aussage mehr war als eloquentes Wohlwollen, bewies Thomas Mann wiederum vier Jahre später, also 1948, als die Vereinigten Staaten überraschend erklärten, nicht mehr die im Jahr zuvor von den Vereinten Nationen beschlossene Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie eine internationale Zone um die heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem unterstützen zu wollen, sondern nunmehr das Ziel einer Treuhänderschaft der UN über ganz Palästina verfolgten.

Am 26. März 1948 erschien Thomas Manns Protestnote im New Yorker »Aufbau« mit einigen weiteren Stellungnahmen, unter anderem von Leo Baeck. Sie ist gekennzeichnet von großer Empörung und tiefer Enttäuschung und greift auf einen dramatischen historischen Vergleich zurück: »Einem noch jungen amerikanischen Bürger fällt die Feststellung schwer, dass dieser Beschluss … das demütigendste und empörendste politische Vorkommnis ist seit dem Verrat, den 1938 die Demokratie an der Tschechoslovakei verübte. Es ist ein Akt schnöder und niedriger ›expediency‹, ein Mord an Treu und Glauben, und lässt mit Schrecken erkennen, wie sehr die Ideale der Demokratie, Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit zu leeren Worten geworden sind.«

Geht man davon aus, dass die Entrüstung aufseiten der Zionisten zumindest mit dafür verantwortlich war, dass die amerikanische Regierung rasch zu ihrer ursprünglichen Haltung in der Palästina-Frage zurückkehrte, woraufhin David Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel verkünden konnte, so hat Thomas Mann zu diesem Vorgang das ihm Mögliche beigetragen.

plädoyer All das Gesagte zusammengenommen, wird zumindest in Umrissen erkennbar, dass sich in der Frage nach Thomas Manns Verhältnis zum Judentum jedes, wirklich jedes Pauschalurteil verbietet. Was sich hingegen als Konstante auch in seinen Äußerungen über den Zionismus zeigt, ist sein ungebrochenes Festhalten an einer den Juden eigenen Exzeptionalität und Alterität, die in den genannten Quellen meist positiv besetzt ist, etwa in der Beschreibung der Juden als »europäischem Kultur-Stimulus«, an anderen Stellen seines Werks aber durchaus negative, bisweilen antisemitische Züge trägt.

Am umsichtigsten, klarsten hat der amerikanische Germanist Guy Stern diese Grundambivalenz beschrieben: Mann gestalte die »jüdische Welt« in seinen Romanen, Erzählungen und Essays ausgehend von der Prämisse, dass den Juden eine »Sonderstellung« zukomme, sei es »im Guten oder Bösen«.

Prekär ist Thomas Manns Anwaltschaft für die Juden und den Zionismus aufgrund dieses Mindset zweifellos. Dass es ihn nicht daran gehindert hat, das Unrecht als Unrecht zu erkennen, es vor aller Welt zu benennen und die politischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, ist aber ebenso unabweisbar. Eine maßvolle, angemessene Kritik in dieser Sache muss beides zur Kenntnis nehmen.

Der Autor ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik.

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