Die 13. Documenta, die noch bis zum 16. September in Kassel stattfindet, ist, trotz manch schriller Äußerung ihrer künstlerischen Leiterin Carolyn Christof-Bakargiev, keine schrille Ausstellung. Im Gegenteil: Sie ist eine ruhige Kunstschau, bei der die Kraft von innen kommt. Es gibt viel Raum zur Besinnung, was auch dadurch unterstützt wird, dass gerade zwischen den Außenkunstwerken größere Abstände liegen. Auf den Spaziergängen dazwischen bleibt genug Zeit, das Gesehene zu vertiefen.
Deportationsgleis Einer dieser Spaziergänge führt zum Nordrand des Hauptbahnhofs (nicht zu verwechseln mit dem ICE-Bahnhof, auf dem auswärtige Besucher in Kassel ankommen), dorthin, wo schon lange keine Züge mehr abfahren. Zwischen den Gleisen wächst Unkraut. Es ist ein Ort der Stille, mit einer schönen Aussicht auf die bewaldete Hügellandschaft um Kassel herum.
Seit Beginn der Documenta erklingt in dieser Stille 20 Mal am Tag die Musik eines Cello-Viola-Duos aus sieben Lautsprechern, die rund um diesen letzten Gleisabschnitt an Strommasten angebracht wurden. Die Klangtest betitelte Installation stammt von der in Berlin lebenden britischen Künstlerin Susan Philipsz (47). Philipsz, die über sich selbst sagt, dass sie besonders das Wechselspiel zwischen Klang, Architektur und den psychologischen Wirkungen von Musik interessiert, hat diesen Ort im Niemandsland bewusst ausgewählt. Denn von diesen Gleisen fernab jeglicher Bevölkerung wurden in den Jahren 1941 und 1942 die Eisenbahntransporte organisiert, mit denen die im Bezirk Kassel noch verbliebenen jüdischen Familien in die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurden. Vorher wurden die Menschen im Bahnhof registriert und durchsucht.
theresienstadt Dies im Bewusstsein, wirkt der ruhige Ort auf einmal gar nicht mehr so beschaulich. Ein Gefühl, das sich noch verstärkt, wenn man sich über die Musik, die hier erklingt, kundig macht. Sie basiert auf der Studie für Streichorchester, komponiert 1943 von dem jüdischen Komponisten Pavel Haas im Lager Theresienstadt. Das Stück wurde am 1. September 1944 vom Theresienstädter Streichorchester für den Propagandafilm Der Führer schenkt den Juden eine Stadt eingespielt. Dieser in seiner Gesamtlänge nie gezeigte Film sollte die Vernichtungspolitik des Nazi-Regimes verschleiern und die »guten Verhältnisse« im Ghetto Theresienstadt beschreiben. Nur einen Monat nach Fertigstellung des Films wurden die Mitwirkenden ermordet, auch der Komponist Pavel Haas, der am 17. Oktober im KZ Auschwitz-Birkenau zu Tode kam.
Ein dritter Aspekt des Kunstwerks ist, neben den Todesgleisen und der nachdenklich stimmenden Musik, die Tatsache, dass vor und während des Zweiten Weltkriegs gleich hinter dem Bahnhof die Maschinenfabrik Henschel & Sohn Kriegsgerät für die Hitlerschen Armeen produzierte, das ebenfalls von dort aus per Bahn zu den Bestimmungsorten transportiert wurde. Auch heute werden unweit von diesem Ort noch/wieder Panzer gebaut und in die ganze Welt verkauft.
So gelingt es Susan Philipsz, die 2010 als erste Künstlerin überhaupt für eine Klanginstallation mit dem renommierten britischen Turner-Preis ausgezeichnet wurde, anders als bei einem in Stein gehauenen Mahnmal, den Betrachter aus seiner Umgebung herauszulösen und sich danach im Bezug zu diesem Ort völlig anders wahrzunehmen.
Susan Philipsz’ Installation »Klangtest« ist bis zum 16. September täglich von 10 bis 19.30 Uhr zur vollen und halben Stunde zu hören. Dauer: 13 Minuten
www.d13.documenta.de