»Vaterjuden«

Teil der Familie

Etwa die Hälfte der Kinder in Deutschland, die einen jüdischen Vater haben, werden nicht von einer jüdischen Mutter geboren, schreibt die Soziologin Ruth Zeifert in ihrer Dissertation Nicht ganz koscher. Vaterjuden in Deutschland.

Obwohl das im Jahr 2011 laut offizieller Statistik nur 196 Babys waren, liegt die Relevanz des Themas, so die Autorin (selbst »Vaterjüdin«), auf der Hand: »Von etwa 200.000 Kontingentflüchtlingen, die zwischen 1990 und 2003 nach Deutschland eingewandert sind, ist in den Gemeinden lediglich ein Zuwachs von 70.000 Mitgliedern verzeichnet worden. Zahlreiche derer, die keine Gemeindemitglieder wurden, sind patrilinearer jüdischer Herkunft«, konstatiert Zeifert, die 2016 beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden an einer Podiumsdiskussion über Familien teilnahm.

interviews Für ihre Dissertation hat Ruth Zeifert biografisch-narrative Interviews mit elf »Vaterjuden« geführt, die zwischen 1922 und 1984 geboren wurden: Menschen, die von den Nationalsozialisten als sogenannte Halbjuden verfolgt wurden, und Menschen, die in der Nachkriegszeit oder in den 70er- und 80er-Jahren in Ost- und Westdeutschland zur Welt kamen. Bewusst hat die Autorin Menschen ausgewählt, die eine (teilweise potenzielle) deutsche Täter/Opfer-Familiengeschichte haben und »beide Seiten dieser negativen Symbiose in sich« tragen.

Die Interviewpartner wurden zu vier Aspekten ihrer jüdischen Identität befragt: (religiöses) Judentum, Familiengeschichte und Schoa, Antisemitismus und Israel. Zeiferts Ergebnis: Obwohl sie von Rabbinern nicht als Juden anerkannt werden, leben und tradieren Patrilineare ihre jüdische Identität, auch wenn sie oft als brüchig empfunden wird. Wie die 1922 geborene »Frau Elsa« sagt: »Ich fühle mich gegenüber den Nichtjuden immer als Jüdin und gegenüber den Juden immer als Nichtjüdin.«

Interessant an Zeiferts Studie sind aber nicht nur die teilweise sehr aufwühlenden Ergebnisse und Einblicke in die Gedankenwelt von »Vaterjuden«, sondern auch eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Patrilinearität seit biblischen Zeiten.

reformgemeinden Den Begriff »Vaterjuden« hatte die Feministin Catharina Dessaur erst 1995 in den Niederlanden eingeführt. In den USA, wo es die intensivste Auseinandersetzung über patrilineare Juden gibt, werden sie in manchen Reformgemeinden als Vollmitglieder aufgenommen. Dort ist auch der Begriff des »ethnischen Juden« geläufiger – ein Terminus, der sich auf die kulturelle oder nationale Herkunft bezieht.

Für Deutschland hat Ruth Zeifert mit einem wissenschaftlichen und gleichzeitig gut lesbaren Buch erneut auf die Dilemmata von Menschen aufmerksam gemacht, die zur jüdischen Familie gehören. Sie selbst stellt fest, dass sich in dieser Frage innerhalb der jüdischen Gemeinschaft etwas bewegt – und sei es »der Tatsache geschuldet, dass die Gemeinden vor einer demografischen Lebenswirklichkeit stehen, die schlicht nicht ignoriert werden kann«.

Ruth Zeifert: »Nicht ganz koscher. Vaterjuden in Deutschland«. Hentrich & Hentrich, Berlin 2017, 218 S., 24,90 €

Marko Dinić

Das große Verschwinden

Der serbisch-österreichische Autor füllt eine Leerstelle in der Schoa-Literatur

von Katrin Diehl  13.10.2025

Usama Al Shahmani

Die Hälfte der Asche

Der Schweizer Autor stammt aus dem Irak. Sein Roman erzählt eine Familiengeschichte zwischen Jerusalem und Bagdad

von Frank Keil  13.10.2025

Literatur

Poetische Analyse eines Pogroms

Boris Sandler, ehemaliger Chefredakteur der jiddischen Zeitung »Forverts«, schreibt über das Blutbad von Kischinew

von Maria Ossowski  13.10.2025

Sachbuch

Zion liegt in Texas

Rachel Cockerell schreibt über russische Juden, die in die USA auswanderten – ein Teil ihrer Familiengeschichte

von Till Schmidt  13.10.2025

Romain Gary

Widerstand in den Wäldern

»Europäische Erziehung«: Der Debütroman des französisch-jüdischen Schriftstellers erscheint in neuer Übersetzung

von Marko Martin  13.10.2025

Jan Gerber

Vergangenheit als Schablone

Der Historiker skizziert die Rezeptionsgeschichte des Holocaust und stößt dabei auf Überraschendes

von Ralf Balke  13.10.2025

Literatur

Die Tochter des Rabbiners

Frank Stern erzählt eine Familiengeschichte zwischen Wien, Ostpreußen, Berlin und Haifa

von Maria Ossowski  13.10.2025

Yael Neeman

Damals im Kibbuz

Der israelische Bestseller »Wir waren die Zukunft« erscheint auf Deutsch

von Ellen Presser  12.10.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Der Ewige? Ist ein cooler Typ, singen Hadag Nachash

von Margalit Edelstein  12.10.2025