2014 erhielt Patrick Modiano den Literaturnobelpreis. Da war er 69 Jahre alt. In seiner ruhigen, stillen Art veröffentlichte er etwa alle zwei Jahre ein weiteres Buch, in dem er sich der »Kunst der Erinnerung« widmete. Das war auch der Titel seiner Rede, als er die höchste Auszeichnung, die ein Literat erhalten kann, in Stockholm entgegennahm. Seine Werke waren nie Wälzer, sondern im besten Sinne des Wortes Kondensate seiner Wahrnehmung der Pariser Topografie und ihrer Bewohner, der um ihren Alltag Ringenden, der Gescheiterten, der Verräter und Verschleppten, der Auftauchenden und Verschwindenden.
Sein jüngstes Werk von 2023, La Danseuse, gehört zu seinen schmalsten und verdient eher die Bezeichnung Erzählung als Roman. Es ist jedoch besonders typisch für Modianos Schreibweise und greift Motive und Stilmittel auf, die ihn seit seinem literarischen Debüt 1968, La Place de lʼÉtoile, begleiten. Er schreibt sehr oft in der Ich-Form, sodass man nie genau weiß, wo er selbst Erfahrenes, Aufgefundenes oder Erfundenes zu einem zarten Gewebe verknüpft, das immer wieder reißt, weil das Erinnerte, ob wahr oder eher wahrhaftig, sich verflüchtigt.
Man findet viele bedenkenswerte Sätze in diesem Buch, das so leise und unspektakulär endet, wie es beginnt.
Die Hauptfigur, eine namenlose Tänzerin, beschäftigt Modiano nicht zum ersten Mal. Sie hat in seinem Kinderbuch Catherine, die kleine Tänzerin, 1991 auf Deutsch erschienen, eine Vorläuferin. Darin lebt ein kleines Mädchen bei seinem Vater in Paris, der zweifelhaften Geschäften nachgeht. Ein ähnliches Los widerfährt dem Sohn der Tänzerin, der Pierre heißt und dessen Erzeuger vor seiner Geburt aus Frankreich verschwinden musste.
Der Ich-Erzähler, ein noch recht erfolgloser Autor, bewegt sich in seiner Erinnerung an seine einstige Vertraute 50 Jahre zurück. Dabei prägt sich jeder »Augenblick der Vergangenheit ins Gedächtnis, wie der Lichtstrahl von einem Stern, den man längst erloschen glaubt«. Modianos Protagonist denkt: »Manchmal findet man in den Träumen das Licht jener Zeit wieder, genau so, wie es war, in manchen, ganz bestimmten Augenblicken des Tages.«
Den Beginn ihres Tanzunterrichts hatte die namenlose Tänzerin als Augenblick ihrer »wahren Geburt« empfunden. Das harte Training bedeutet für sie »ein bisschen Ordnung bringen in mein Leben«. Ihr Begleiter, der Erzähler, glaubt, »dass auch die Literatur eine so schwierige Übung war wie der Tanz, nur in einer anderen Form«.
Man findet viele bedenkenswerte Sätze in diesem Buch, das so leise und unspektakulär endet, wie es beginnt. Es sind die kleinen Dramen des Alltags, die es zu meistern gilt.
Patrick Modiano: »Die Tänzerin«, Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München 2025, 93 S., 20 €