Wuligers Woche

Tante Dora und Tante Eva

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Wuligers Woche

Tante Dora und Tante Eva

Eine Familiengeschichte

von Michael Wuliger  26.03.2020 14:40 Uhr

Momentan ist wenig los auf der Welt, worüber man aktuell schreiben möchte. Lieber erzähle ich deshalb etwas über meine Familie. Genauer gesagt, über zwei Großtanten mütterlicherseits, Dora und Eva. Beide kamen aus einer Kleinstadt nahe Warschau. Weil sie dort keine Perspektive hatten, wanderten die jungen Frauen Anfang der 20er-Jahre nach Frankreich aus.

Dora, die Ältere, ging als Erste. In ihrer ersten Woche in Paris traf sie zufällig eine Freundin aus ihrer Heimatstadt. Die lud sie zu einem Treffen anderer junger polnisch-jüdischer Emigranten ein. Es war eine Gruppe des Kommunistischen Jugendverbandes. So wurde Dora Kommunistin und blieb es ihr Leben lang. In der Partei lernte sie auch ihren Mann kennen, der es später zu Reichtum brachte.

PARTEI Als ich Dora zum ersten Mal begegnete, lebte sie im großbürgerlichen 9. Pariser Arrondissement in einer luxuriösen Wohnung mit Empire-Möbeln und impressionistischen Originalen an der Wand, hielt aber unbeirrbar am Glauben an Marx, Engels, Lenin und vor allem Stalin fest.

Meinen schüchternen Einwand, dass selbst die KPdSU sich inzwischen von Josef Wissarionowitsch distanziert hatte, wischte sie mit einer Handbewegung weg. Das sei das Werk trotzkistischer Diversanten, die die Partei unterwandert hätten.

Jahrzehntelang trafen sie sich fast jede Woche.

Tante Eva war keine Kommunistin. Sie bezeichnete sich selbst als Anarchistin – nicht im politischen Sinne, aber in ihrer Lebensgestaltung. Eva war alleinerziehende Mutter zweier Kinder und führte eine – auch sexuell – selbstbestimmte Existenz, was in den 30er-Jahren nicht ganz so problemlos war wie heute.

Aber auf das, was die Leute dachten, gab Eva wenig. Sie folgte immer ihren eigenen Instinkten. Das rettete ihr möglicherweise das Leben.

STREITEN 1940 besetzten die Deutschen Paris. Bald darauf erschien ein Dekret, dass alle Juden sich bei den Behörden regis­trieren lassen mussten. Eva »roch sofort den Braten«, wie sie mir später erzählte, packte noch am selben Tag einen Rucksack, nahm ihre zwei Kinder und machte sich zu Fuß zuerst in den unbesetzten Süden Frankreichs auf und von dort, es war inzwischen Winter, über die verschneiten Pyrenäen nach Spanien, wo sie wegen illegaler Einreise eingesperrt und ein paar Monate später nach Marokko abgeschoben wurde. 1945 kehrte sie mit den Kindern zurück nach Paris.

Auch Dora hatte überlebt. Und so konnten die beiden Schwestern sich noch jahrzehntelang fast jede Woche treffen und tun, was sie am liebsten taten: streiten. Eine Unterhaltung habe ich noch heute im Ohr. Dora beklagte sich, dass sie keine zuverlässige Putzfrau finden könne. Eva daraufhin: »Dora, du gehörst zur Bourgeoisie. Die Bourgeoisie braucht keine Putzfrauen. Das Proletariat braucht Putzfrauen, weil dort die Menschen arbeiten, im Gegensatz zu dir!«

Das ist inzwischen fast 40 Jahre her. Tante Dora und Tante Eva sind mittlerweile längst verstorben. Doch ihre Erinnerung ist für mich bis heute ein Segen.

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