Leonard Cohens »Take This Waltz« war unser Hochzeitswalzer. Vielleicht war das ein bisschen makaber, vielleicht ein bisschen absurd, vielleicht etwas verwegen. Aber dieser Walzer war und ist und wird – wie bei vielen anderen Menschen weltweit – ewig das Lied unseres Lebens bleiben. Die abgrundtief menschliche Melancholie von Leonard Cohen wurde zum Soundtrack unserer Liebe. Seine Musik, in der er seiner eigenen Depression immer wieder ein Stück Hoffnung für uns alle abgelauscht hat.
Als er das letzte Mal in Wien gastierte, wollten wir natürlich hin. Damals hatten sich seine Schulden angehäuft, und der alte Mann, der sich längst ausruhen wollte, musste wieder die Koffer packen. Ich war damals nicht in der Stadt, meine Frau ging mit ihrer Schwester ins Konzert und schickte mir Bilder.
Seither haben wir versucht, ihn noch einmal gemeinsam zu sehen, sogar kurz überlegt, in einen dieser Clubs nach New York zu reisen, in denen er am Ende zuweilen noch auftrat, nur für ihn. Noch einmal wollten wir uns von ihm unseren Walzer vorsingen lassen, diesen Walzer mit seinem »Ich werde dich niemals vergessen«. Zu spät.
Familie Vor einem Jahr, am 7. November 2016, ist Leonard Cohen, der Unsterbliche, im Alter von 82 Jahren gestorben. Erst war er in seinem Haus in Los Angeles gestürzt, wenig später wurde er auf dem jüdischen Friedhof »Shaar Hashomayim« in Montreal begraben – noch bevor die Öffentlichkeit von seinem Ableben erfuhr. Cohen fand ewige Ruhe an der Seite seiner Familie, seines Vaters und seines Großvaters, die einst den orthodoxen Synagogenchor Shaar HaShamayim geleitet hatten.
Dem Chor hatte der Sohn und Enkel auf seiner letzten Platte You Want It Darker noch einmal einen Auftritt gegeben. Spätestens da war sein Lebenskreis geschlossen. Der Sänger öffnete auch musikalisch noch einmal seine Arme und war bereit, heimzukehren. Cohens Heimatstadt Montreal setzte damals die Staatsflagge auf Halbmast, und meine Frau und ich tanzten in unserem Wohnzimmer in Erinnerung an ihn: »Take this waltz, take this waltz. Take its broken waist in your hand.«
Was den Abschied erleichtert hat: dass Cohen selbst in You Want It Darker (einem seiner besten Alben) bereits vor seinen Herrn getreten war. Seelennackt, unerschrocken, voller Demut und mit einem irgendwie tröstlichen und melancholischen Fatalismus. »I’m ready, my Lord«, hat er da gesungen, »Hineni, Hineni«, und mit seiner lässigen Reibeisenstimme hingenommen, dass er, der alte Mann, die Welt nicht mehr versteht. Und er hatte den Mut, vor dem letzten Gericht noch einmal mit seinem eigenen Herrn ins Gericht zu gehen: »If you are the dealer, I’m out of the game. If you are the healer, it means I’m broken and lame. If thine is the glory then mine must be the shame. You want it darker. We kill the flame.«
Licht Seit einem Jahr nun ist die Flamme erloschen. Dieses dunkle Licht seiner Musik, das einer Welt erholsam-melancholischen Schatten spendete, die ihre Scheinwerfer inzwischen gern besonders grell aufstellt. Cohen war der Abraham der Singer-Songwriter, einer, dessen Leben immer auch ein Leidensweg war, eine Suche ohne Ziel, ein Kampf gegen die eigenen Depressionen, in dem er für uns alle unendliche Schönheit fand – für sich selbst allerdings höchstens Augenblicke der Zufriedenheit.
Cohens Passion war die eines Gläubigen, egal, welcher Religion. Sein Judentum bildete die Klammer des Weges, der ihn von der jüdischen Kindheit über Exkurse zu Scientology in ein buddhistisches Kloster führte; er pflückte die großen Geschichten des Christentums am Wegrand und kehrte letztlich zurück zum Judentum. Und vielleicht macht gerade die religiöse Suche das wirklich Irdische seiner Musik aus, jenen Kampf des Menschen, der mit beiden Beinen in der Welt steht, schwankend an einer Bar, tanzend auf einer Bühne oder bewegt in einem turbulenten Liebesleben und gleichzeitig immer auch in den Himmel strebend und nach Erklärungen suchend, nach dem Sinn des Ganzen.
Oder bei Cohen eher: nach der Legitimation des Absurden als eigentliche Motivation des Daseins. Wie heißt es in »Take This Waltz«: »I want you in some hallway where love’s never been. On a bed where the moon has been sweating. In a cry filled with footsteps and sand.«
fantasie Meine Frau und ich tanzen noch immer zu Leonard Cohen, immer dann, wenn ein Tag uns wieder einmal keinen Atem gelassen hat, wenn die Welt mal wieder so groß, die Zeit so schnell gewesen ist, wenn die Routine das Außerordentliche lähmt, das Rationale die Fantasie beschränkt. Dann legen wir seinen Walzer auf, nehmen uns in die Arme und tanzen und summen: » Aey, aey, aey, aey. Take this waltz. Take this waltz.«
Es wäre pathetisch, ein Jahr nach Cohens Tod zu schreiben, dass er längst unsterblich ist. Dass er weiterlebt in seiner Musik. Ich bezweifle, ob er das überhaupt wollte, immer und ewig leben. Dafür war er nicht der Typ.
Und wenn man all seine Lieder noch einmal hört, ging es ihm selten darum, das Leben zu feiern, sondern darum, durch das Singen das Leben erträglicher zu machen, ein Stück Absurdität aus dem Himmel auf die Erde zu holen und dem unwiderruflichen Faktum, dass wir den Sinn des Daseins nicht verstehen können, eine Melodie zu geben, deren einziger Glaube darin besteht, dass alles irgendwie gut ist, weil alles sein soll, wie es ist.
Schönheit Cohens Musik erinnert uns daran, dass wir, wenn die Welt wieder einmal viel zu groß ist, immerhin noch tanzen können, tanzen, bis passiert, was passiert. Und dass es ein Teil der menschlichen Schönheit ist, all das, was geschieht, irgendwie hinzunehmen und sich nicht länger zu fragen: »But who is it climbs to your picture. With a garland of freshly cut tears?«
Die Schallplattennadel ist, während ich diesen Text geschrieben habe, über sein Album Live in Dublin gefahren – nun hängt sie in der Endlosschleife der letzten Rille fest und knackst leise vor sich hin. Der Walzer ist zu Ende, und wir tanzen einfach weiter: »And I’ll bury my soul in a scrapbook. With the photographs there, and the moss.«