Eine Wohnung in München. Im Kühlschrank wartet eine Packung cholesterinsenkende Margarine darauf, ranzig zu werden. Im alten Kinderzimmer steht nur noch ein Wäscheständer. Auf dem grünen Sofa aus stachligen garstigen Fasern sitzt die Erzählerin und wartet, dass der Entrümpler kommt und die Möbel mit dem Geruch ihres Vaters mitnimmt – eines Israelis, der einmal über das Bein einer deutschen Frau stolperte und so hängen blieb in einem Land, in dem eigentlich von Anfang an alles schiefgegangen war. Erst die Promotion, schließlich die Ehe.
Geht es nach der Tochter, soll der Entrümpler das alles mitnehmen. Auch die aufgeräumte Schreibtischschublade, die ganz anders ist, als der Vater selbst war: Ein Paranoiker, der nach »Juden-in-der-Diaspora-Art« seine Haustür immer zweimal abschließt, resigniert auf das Leben des Bruders in Tel Aviv schielt und Angst hat, dass irgendwann das Geld so knapp wird, dass es nicht einmal mehr für die in der Mikrowelle aufgewärmten Kartoffeln reicht.
Ein Mann, der jeden Streit mit der deutschen Frau verliert
Ein Mann, der jeden Streit mit der deutschen Frau verliert und sich dann wie ein verletztes Tier an seinen Schreibtisch zurückzieht – wo die jüngste Tochter ihn aufsucht, versucht, den Vater zu trösten, und sich wahnsinnig schuldig fühlt.
All das soll der Entrümpler mitnehmen, nur nicht das Fünf-Mark-Stück, das die Erzählerin in einer Schublade findet und ihrer verhassten und gleichzeitig geliebten Schwester mitbringen will, würde sie nur zwischen dem ganzen Kram ihre Telefonnummer finden.
Der Roman ist ein Tagtraum, der erst gestört wird, als der Entrümpler vorfährt.
Dana von Suffrin schreibt in ihrem zweiten Roman Nochmal von vorne über eine Familie, die für ihre Mitglieder abwechselnd eine Parodie, ein Fluch oder völlig egal ist – außer, so scheint es, für die Erzählerin selbst, die jüngste Tochter, die versucht, sich an die wenigen Momente der Harmonie zu klammern, und sich jetzt doch nur daran erinnern kann, wie die Eltern sich aneinander quälten.
Schon in ihrem Romandebüt Otto erzählte die Autorin rührend und ehrlich, wie ein Vater zum Pflegefall wird. Dafür erhielt sie gleich mehrere Auszeichnungen. Aber auch ihr zweites Familiendrama ist preisverdächtig, hat es doch alles, womit schon Otto überzeugte: Die Autorin erzählt in ihrem ersten Buch eine Geschichte, die »zugleich sehr lustig und wahnsinnig traurig« ist, lobte die »Süddeutsche Zeitung«.
Wenn die Eltern sich streiten ...
Wenn die Eltern sich streiten, über die Krimis im Fernsehen, oder weil die Mutter ihren Chef »Eichmann« genannt hat, dann ist das so komisch, so abwegig und doch so vertraut, dass man lachen möchte, aber es bleibt einem im Halse stecken, denn diese ganze Szenerie liest man ja nur, weil die jüngste Tochter starr daneben hockt und sich alles merkt. So gut, dass sie jetzt noch jedes Detail abspulen kann, während sie auf dem grünen Sofa wartet.
Der Roman ist ein Tagtraum, der erst gestört wird, als der Entrümpler vorfährt. Die Assoziationen jagen einander, die Sätze fließen übereinander, und dann steht man auch schon in dem hässlichen Haus einer Vorstadt, wo die Erzählerin endlich ihrer Schwester in den Armen liegt, von der man froh ist, dass sie noch da ist, nachdem die Großmutter mit den dicken Brüsten, der braun gebrannte Onkel und sein hübscher Sohn, die Mutter und schließlich der Vater – jeder auf seine Weise – gestorben sind.
Und so sind die beiden Schwestern die Einzigen, die sich an diese Welten erinnern und einander erzählen, was sonst ja niemand mehr verstehen kann. Und das ist so warm und schön, dass man ganz vergisst, dass man gerade den traurigsten Roman seit Langem gelesen hat.
Dana von Suffrin: »Nochmal von vorne«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 240 S., 23 €