Sie war eine der letzten Zeitzeuginnen von Auschwitz: Die Journalistin und Schriftstellerin Renate Lasker-Harpprecht ist am 3. Januar im Alter von 96 Jahren in ihrer Wahlheimat La Croix-Valmer an der Côte d’Azur gestorben. Noch vor zwei Jahren, im Januar 2018, hatte sie ihre Schwester Anita Lasker-Wallfisch nach Berlin begleitet, die bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag als Rednerin auftrat.
Renate Lasker-Harpprecht war die ältere der beiden Schwestern – eine bis ins hohe Alter beeindruckend schöne Frau mit ausdrucksvollen Augen und stilvollem Outfit. Ihre Nichte, die Psychotherapeutin Maya Lasker-Wallfisch, sagte einmal in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen: »Ich bin eher wie meine Tante Renate. Ich liebe schöne Kleidung, ich mag Schmuck.«
Leichtigkeit In Interviews zeigte Renate Lasker-Harpprecht neben bissigem Humor und ihrer sehr direkten Art auch eine beeindruckende Leichtigkeit. »Zum Überleben: Man muss sich immer einen Hauch von Albernheit bewahren«, sagte sie 2015 in einem Gespräch mit NDR Kultur à la carte, das kurz nach ihrem Tod wiederholt wurde. Einer ihrer Musikwünsche bei dieser Gelegenheit war »We Are The World« von Michael Jackson. Dass sie in Breslau zur Welt kam, ist ihrem Deutsch bei der Aufnahme deutlich anzuhören.
Geboren 1924 und aufgewachsen als zweite Tochter einer assimilierten jüdischen Familie, wurde Renate Lasker mit ihrer jüngeren Schwester Anita nach einem Fluchtversuch nach Frankreich am Breslauer Bahnhof mit gefälschten Papieren festgenommen und im Juni 1943 zu Zuchthausstrafen verurteilt. Im Dezember 1943 wurden die beiden Schwestern getrennt voneinander nach Auschwitz deportiert. Die Eltern wurden schon 1942 festgenommen, vermutlich in der Nähe von Lublin umgebracht und in ein Massengrab geworfen. Die älteste Schwester, Marianne Lasker, konnte vor Kriegsbeginn nach London flüchten.
Renate Lasker überlebte Auschwitz, weil ihre Schwester Anita als Cellistin im Lagerorchester spielte und sich für sie einsetzte. »Ich wurde sehr schnell sehr krank«, sagte sie 2016 in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen: »Jeden zweiten Abend kam die SS in die Krankenlager. Wir mussten splitterfasernackt aus unseren Kojen herausspringen. Dann wurde selektiert. Ich sah so scheußlich aus, dass sie mich sofort auf die Gaskammerseite geschoben haben. (…) Ein SS-Mann stand an der hinteren Seite, ich drehte mich etwas zurück und sagte zu ihm, ich bin die Schwester der Cellistin aus dem Mädchenorchester. Er gab mir einen Tritt in den Hintern und bugsierte mich auf die andere Seite.«
LÄUFERIN Später übernahm Renate Lasker in Auschwitz den Job als Läuferin und Dolmetscherin, den zuvor Mala Zimetbaum, die nach einem Fluchtversuch hingerichtete Widerstandskämpferin, innehatte. Renates Schwester Anita hatte bei der Oberaufseherin des Frauenlagers, Maria Mandl, ein Wort für sie eingelegt. Im Oktober 1944 wurden die Schwestern nach Bergen-Belsen deportiert. Dort wurde Renate Lasker als 21-Jährige von britischen Soldaten befreit.
»Dann rollten die ersten Tanks ins Lager. Wir schauten stumm auf unsere Befreier. Zum Jubeln hatten wir keine Kraft. Es war vier Uhr nachmittags an diesem sonnigen 15. April des Jahres 1945. Das war mein Befreiungstag, den ich Jahr für Jahr wenigstens mit einer Minute der Besinnung feiere«, schrieb sie 2002 in der »Frankfurter Rundschau«: »Es war der Tag, an dem das Leben noch einmal begann.«
BBC Nach dem Krieg emigrierte Renate Lasker gemeinsam mit ihrer Schwester nach England. Dort arbeitete sie als Moderatorin für den deutschsprachigen Dienst der BBC und lernte den WDR-Journalisten Klaus Harpprecht kennen – später wurde er Redenschreiber für Willy Brandt.
Ihre Schwester war nicht begeistert: »Ich dachte: Anita wird mir die Hölle heiß machen«, erinnerte sich Lasker-Harpprecht. »Wir haben uns dann in der BBC-Kantine verabredet. Wir saßen an einem Tisch, ich schickte ihn irgendwann Kaffee holen. Während er weg war, fragte ich Anita: ›Nu? Was hältst du von ihm?‹ Sie schaute mich einmal ganz lange an und sagte: ›Thank God, he is not good looking.‹«
Die Auschwitz-Überlebende Renate Lasker heiratete den deutschen Pastorensohn Klaus Harpprecht. Eigene Kinder bekam das Paar nicht. Ab 1982 lebten die beiden in Frankreich. Renate Lasker-Harpprecht wurde Französin, erst spät bekam sie nach vielen Mühen ihren deutschen Pass zurück.
»Schon bald nach der Befreiung habe ich mir vorgenommen, dass ich mir nicht den Rest meines Lebens von Hitler diktieren lasse.«
Renate Lasker-Harpprecht
Drei Monate nach dem Tod ihres Mannes im September 2016 reiste Renate Lasker-Harpprecht im Dezember gemeinsam mit ihrer Schwester nach Deutschland, um den Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin entgegenzunehmen. Bei dieser Gelegenheit gaben die Schwestern auch der »Jüdischen Allgemeinen« im Charlottenburger Hotel Savoy ein gemeinsames Interview – perfekt aufeinander eingespielt und trotz ihrer bitteren Erfahrungen mit Deutschland gewillt, den Aufenthalt in Berlin zu genießen.
Beiden Schwestern war es ein Anliegen, nicht zu emotional zu werden, wenn sie über ihre Zeit in den Lagern sprachen. »In Frankreich, wo Menschen aus der damaligen Zeit Grund für ein schlechtes Gewissen haben, gibt es auch noch Überlebende. Dann stellen sie eine krumme alte Dame auf ein Feld in Auschwitz, und sie fängt an zu heulen. Da schäme ich mich«, sagte Renate Lasker-Harpprecht der Jüdischen Allgemeinen.
2015 wurde sie für die Titelgeschichte »Die letzten Zeugen« vom »Spiegel« befragt. Die Geschichten von 19 Überlebenden wurden auch als Buch veröffentlicht. Ein sehr persönliches Interview gab sie der »Zeit« 2014 unter dem Titel »Auschwitz erlaubt keine Rührung«. Im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo sagte sie: »Schon bald nach der Befreiung habe ich mir vorgenommen, dass ich mir nicht den Rest meines Lebens von Hitler diktieren lasse.«
NACHKRIEGSZEIT Das galt auch für ihr Verhältnis zu Deutschland. Mit Klaus Harpprecht zog sie zunächst von London nach Köln. Leicht war das nicht für sie in der Nachkriegszeit.
In ihrer direkten Art sprach sie in dem Interview auch über den WDR-Journalisten Werner Höfer, dessen regimetreues Verhalten während der NS-Zeit später bekannt wurde: »Er war Gast bei unserer Hochzeitsfeier in Köln. Er hat furchtbar viel gesoffen, und er ist mir auf die Pelle gerückt. Er guckte mir ganz tief in die Augen und sagte: ›Sie schöne Jüdin, Sie.‹ Da kann man doch nur kotzen.«
Oft wurde sie gefragt, warum sie nicht früher über ihre Zeit im Lager gesprochen habe. »Und sehr viele Menschen wundern sich über meine Antwort: ›Man hat uns nicht gefragt‹«, sagte Lasker-Harpprecht. Wenn sie doch erzählte, ärgerte sie sich über bestimmte Reaktionen von Deutschen: »Sie fangen sofort an, von ihrem eigenen schrecklichen Schicksal im Krieg zu erzählen. Wie sie ausgebombt wurden. Dann breche ich das Gespräch ab.«
Träume Auch mit ihrem Mann redete sie selten über die Zeit im Lager. Doch natürlich wusste er, wie sehr seine Frau unter den Folgen der Verfolgung litt: »Tagsüber bin ich ein vergnügter Mensch«, sagte sie dem NDR: »Aber ich träume entsetzliche Sachen.«
Zuletzt äußerte sie sich pessimistisch: »Manchmal bin ich froh, dass ich schon alt bin. Denn so muss ich nicht mehr erleben, wie die Welt aus lauter Dummheit untergeht. Wenn ich sehe, wie viele in Deutschland einer rechten Partei hinterherrennen (…), denke ich an das zurück, was mein verstorbener Mann Klaus sagte: Manche Menschen sind einfach riegeldumm; man kann es nicht anders sagen«, schrieb sie 2020 in einem Kommentar für die Jüdische Allgemeine.
Doch an die Liebe glaubte sie trotz allem, sie gab ihr Kraft. »Ich weiß, du wärst mitgegangen«, sagte sie einmal zu Klaus Harpprecht über Auschwitz. Eine größere Liebesbezeugung scheint kaum möglich – von einer Frau, die das Schlimmste erlitt und sich den Spaß am Leben nicht nehmen lassen wollte.