Nicole Eisenman ist in der Kunstwelt längst eine feste Größe. Schließlich arbeitet die amerikanische Künstlerin seit rund 30 Jahren ausgesprochen erfolgreich. Bekannt wurde sie durch eine unverwechselbare Kunstinterpretation, die ihre jeweilige Lebensphase und die damit verbundenen gesellschaftspolitischen Zumutungen widerspiegelt, ob im Bereich Malerei, Skulptur oder Comic.
Diesen Lebensabschnitten folgend, präsentiert das Museum Brandhorst in München derzeit rund 100 Arbeiten der freien Künstlerin, die sich von ihren Anfängen 1992 im New Yorker East Village bis heute zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten auf dem Kunstsektor entwickelte.
WEIBLICHE AGGRESSION Etliche ihrer Arbeiten haben etwas Kindliches, Karikaturhaftes. Andere mögen für männliche Betrachter geradezu schmerzhaft sein, weil in ihnen weibliche Aggression, manchmal splattermäßig, dargestellt und ausgetobt wird.
Und dann gibt es wieder großartige Gemälde, die ihre profunde Kenntnis der Bildkomposition vergangener Epochen von Goya und Pieter Bruegel bis Claude Monet und George Grosz sowie deren Interpretation und Fortführung in der Bildersprache der 2000er-Jahre entdecken lässt. Manche von Eisenmans Werken gleichen geradezu surrealen Wimmelbildern und laden zu Entdeckungsreisen ein. Pinselstrich, Material, auch die Physiognomie der Dargestellten können in einem einzigen Bild so verschieden sein, als würde ein alter italienischer Meister auf Andy Warhol treffen und mit Betty-Boop-Schöpfer Max Fleischer zusammenwirken.
Wie es das Schicksal wollte, wurde Nicole Eisenman 1965 in Verdun geboren, wo 1916 auf französischem Boden eine der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs stattfand. Ihr Vater war dort als Psychiater im Dienst der US-Armee stationiert. Eisenman wuchs in der Kleinstadt Scarsdale im Bundesstaat New York auf und studierte an der 1877 gegründeten Rhode Island School of Design in Providence, einer der ältesten Ausbildungsstätten für Kunst und Design in den Vereinigten Staaten.
SZENE Nach dem Abschluss ihres Studiums 1987 mit einem Bachelor in Malerei gab es kein Halten mehr. Sie brach auf nach New York, zu neuen Ufern in jedem Sinne des Wortes, und tauchte ein in die lesbisch-feministische Szene der Großstadt. Rasch machte sie sich einen Namen, stellte in Galerien von Los Angeles bis London aus.
Nonkonformistisch in ihrer Bildersprache und Lebensweise wurde sie trotzdem eine preisgekrönte Größe ihres Metiers. Ihr Vorgriff auf Phänomene und Krisen, bevor sich diese breit machen, gibt ihren Arbeiten nahezu etwas Prophetisches: ob sexuelle Befreiung und MeToo-Debatte, Bush-Ära und Irakkrieg, Immobilien-Crash und Verarmung des Mittelstands, Trump-Ära und Corona-Lockdown.
2008 schuf sie das Gemälde »Coping«, ganz gemünzt auf die amerikanische Verelendung. Doch die Menschen in schlammigen Fluten, beobachtet aus umliegenden Häusern, haben im Ahrtal 2021 ebenso elend ausgesehen.
GOLEM Für die Rettung der Menschheit braucht es mindestens einen Golem. Nicole Eisenman hat 2004 eine Figur geschaffen, die der Marvel-Figur »Korg«, einem steinernen, sanftmütigen Riesen, nachempfunden ist, und ihre Arbeit betitelt mit »From Success to Obscurity« (»Vom Erfolg zur Dunkelheit«). Heute braucht es eben mehr als einen Retter aus Lehm – wie zu Zeiten des legendären Rabbi Löw.
Über die Ausstellung in einem der angesagtesten Museen für zeitgenössische Kunst in Deutschland freut sich Eisenman natürlich.
Dabei hat sie, was dieses Land betrifft, nicht nur gute Eindrücke. 2017 wurde ihre Skulptur »Sketch for a Fountain« in Münster teilweise schwer beschädigt – ein Kunstwerk aus fünf überlebensgroßen Figuren, teils aus Bronze, teils aus fragilem Gips. Fünf Familienmitglieder waren in der NS-Zeit aus Deutschland vertrieben worden. Inzwischen lagern die fünf Figuren wieder um den Brunnen in Münster. Eisenman sagte damals, sie habe »Körper in dieses Land zurückgebracht«.
Die Ausstellung von Nicole Eisenman »What Happened« ist bis 10. September im Museum Brandhorst in München zu sehen.