Stan Lee (1922- 2018) hat die Geschichte seines eigenen Erfolges im Laufe seines Lebens so oft erzählt, dass sie selbst zu einer Art Superhelden-Story geworden ist: 1961 erhielt er von Martin Goodman, Inhaber des maroden Verlags Marvel Comics, den Auftrag, eine Idee des Rivalen DC Comics zu klauen.
DC hatte seine beliebtesten Charaktere zu einem Team zusammengeschlossen, der »Justice League of America«. Stan Lee zerbrach sich tagelang den Kopf, bis er vier Figuren erfunden hatte, von denen er fand, dass sie als Team funktionieren würden. Er nannte sie »Fantastic Four«, die fantastischen Vier.
Das Comic-Heft, das er gemeinsam mit dem Zeichner Jack Kirby entwickelte, war ganz anders als die »Justice League« der Konkurrenz. Die vier fantastischen Helden verhielten sich nicht sehr heldenhaft, sie stritten sich ständig und hatten die Dynamik einer dysfunktionalen Familie. Diesen Ansatz - Superhelden mit menschlichen Schwächen - machte Lee zur erfolgreichen Marvel-Formel. Damit veränderte er das US-amerikanische Comicgeschäft für immer.
Gemeinsam mit Steve Ditko erschuf er Spider-Man, einen Superhelden, der in Wirklichkeit ein unsicherer Oberschüler ist und sich ohne Maske mit Noten, Liebeskummer und Familienstress herumschlagen muss. Es folgten der Hulk, ein Wissenschaftler mit Wutproblem, außerdem Thor, ein behinderter Arzt, der zum Gott des Donners wird, sowie Iron Man, ein Millionär mit Todesangst, und schließlich Dr. Strange - ein arroganter Chirurg, der magische Kräfte verliehen bekommt. Auch die »X-Men«, von der breiten Gesellschaft angefeindete Mutanten, hat Lee mit erschaffen. Vor 100 Jahren, am 28. Dezember 1922, wurde Stan Lee in New York geboren.
Der Sohn jüdischer Immigranten aus Rumänien - sein Geburtsname war Stanley Lieber - wollte ursprünglich Romane schreiben. 1939 begann er als Hilfskraft bei Timely, der Comic- und Groschenheft-Abteilung, die später Marvel werden sollte. Als Autorennamen nahm er Stan Lee an - angeblich, um seinen realen Namen für Größeres aufzusparen. Lee schrieb für Comics wie »Captain America« und wurde mit 19 Jahren Chefredakteur von Timely. Von dieser Position aus musste er zunächst dem Niedergang des Comic-Hefts an den Zeitungsständen der USA zusehen, bevor seine Ideen den Markt in den 60er Jahren wiederbelebten.
Lee blieb Chefredakteur, bis er 1972 selbst zum Verleger aufstieg. In dieser Zeit etablierte er sich auch als Sprachrohr des Verlags gegenüber den Fans. »Bullpen Bulletins« wurden die Seiten der Hefte genannt, in denen er auf die Briefe der Leser antwortete und Anekdoten aus der Redaktion erzählte. Sich selbst inszenierte er als irrwitzigen Zirkusdirektor. In seiner Kolumne etablierte er geflügelte Worte wie »Nuff said (etwa: «Genuch gesagt») und seinen Schlachtruf «Excelsior!». Sich selbst verlieh er den Spitznamen Stan «The Man Lee.
Ab 1980 zog Lee, immer schon zu gleichen Teilen Autor und Verkäufer, nach Hollywood. Er hatte die Hoffnung, die Marvel-Charaktere in anderen Medien zu vermarkten - was ihm mit Ausnahme einer »Hulk -Serie nicht gelang. Erst in den späten 90er Jahren begann das Superhelden-Kino zu boomen. Zunächst mit den «X-Men-Filmen ab 1999, dann mit »Spider-Man« (2002) und seinen Fortsetzungen. Nach Marvel Studios‹ »Iron Man« (2008) wurden die Filme des Marvel Cinematic Universe schließlich zum dominanten Popkultur-Franchise der 2010er Jahre.
Lee war zu diesem Zeitpunkt längst in die Rolle des Ehrenvorsitzenden aufgestiegen. Seine kleinen Auftritte in jedem Film, der auf einem Marvel Comic basiert, zementierten seine neue Rolle als eine Art Maskottchen des Verlags, der seit 2009 zu Disney gehört. Sie unterstrichen auch seinen Ruf als genialer Onkel mit getönter Brille und Schalk im Nacken, den er bereits in den 60ern etabliert hatte. Die grauen bis weißen Haare trug er stets streng nach hinten gekämmt.
Stan Lee konnte den Erfolg seiner Schöpfung bis zum Schluss genießen - auch wenn er mehrere Gerichtsverfahren mit seinen Künstlern über die Rechte an den gemeinsam geschaffenen Charakteren führte und seine 2002 gegründete Firma POW! Entertainment zahlreiche geschäftliche Fehlschläge landete.
Stan Lee starb am 12. November 2018 im Alter von 95 Jahren, knapp anderthalb Jahre nach seiner Frau Joan, mit der er 69 Jahre verheiratet gewesen war. Seine Fans und die Schauspieler der Marvel-Filme feierten ihn als Legende und nahbares Genie.