Groß feiert die Frankfurter Goethe-Universität seit Beginn des Jahres ihren 100. Geburtstag. Dazu zählt die Gründungsgeschichte der 1914 vor allem von jüdischen Stiftern auf den Weg gebrachten Universität. Dazu zählt aber auch die NS-Zeit. Was weitgehend unbekannt ist: Der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele, dessen akademische Laufbahn bisher meist mit der Ludwig-Maximilian-Universität München in Verbindung gebracht wird, arbeitete und promovierte auch an der Frankfurter Hochschule.
Im Universitätsarchiv lagern noch immer, teils im Original, die Personalakte Mengeles, seine Geburtsurkunde, ein von ihm verfasster Lebenslauf, Ariernachweis, Belege seiner Anstellung als Institutsarzt der Universität – und seine Doktorarbeit. »Universitäts-Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene Frankfurt am Main« steht auf dem Deckblatt.
Und darunter: »Sippenuntersuchungen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte«. Ein Wälzer, der die angebliche Vererbbarkeit von »Hasenscharten« belegen will. Eine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Medizinischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, vorgelegt im Juni 1938.
Forschungsstelle »Frankfurt ist eben nicht nur Goethe, sondern auch Mengele«, sagt Benjamin Ortmeyer, Erziehungswissenschaftler und Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik, in der Goethe-Uni und Fritz-Bauer-Institut kooperieren. Dass der heutige Campus Westend früher die Zentrale der IG Farben war, die das Lager Monowitz in Auschwitz betrieb und das Zyklon-B für die Gaskammern herstellte, gehört zur bekannten Historie des Ortes. Dass jedoch auch der »Todesengel von Auschwitz«, Josef Mengele, Angestellter der Universität war, ist zwar in der Forschung bekannt, sagt Ortmeyer, »aber im öffentlichen Bewusstsein und Gedächtnis ist das nicht verankert«.
Die Forschungsstelle startete bewusst am 27. Januar – am Gedenktag für die Opfer der Schoa – eine Ringvorlesung, die sich über das ganze Jahr verteilt mit Mengele und anderen Tätern sowie jüdischen Opfern an der Goethe-Universität befasst. Ortmeyer versteht das als Kontrapunkt zur offiziellen Jubelfeier. Akribisch hat er Fakten zusammengetragen. Daraus ergibt sich, dass Mengele von Januar 1937 bis zu seiner Einberufung im Juni 1940 unter dem berüchtigten Direktor Otmar von Verschuer am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene beschäftigt war. Auf Gehalts- und Personallisten der Uni stand Mengele gar bis 1944, als er längst in Auschwitz war.
Zunächst arbeitete Mengele als Medizinalpraktikant an dem Frankfurter Institut, später als Volontär und Stipendiat der Bad Nauheimer Kerckhoff-Stiftung. Im September 1937 wurde er als Arzt »bestallt«. Mitte 1938 trat er eine Assistentenstelle bei Verschuer an. Mengele nahm an amtsärztlichen Untersuchungen teil. »Besonders wertvolle Dienste leistet er bei den erb- und rassenbiologischen Begutachtungen zur Abstammungsprüfung«, schrieb der Institutsdirektor an das Kuratorium der Uni. Verschuer war Verfasser eines Leitfadens der Rassenhygiene, in dem er gegen das Eindringen »fremdrassiger Juden und Zigeuner« hetzte.
Vertrag Auch Udo Benzenhöfer, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Frankfurt, hat sich mit Mengele befasst. In einer medizinhistorischen Abhandlung im hessischen Ärzteblatt schreibt er: »Viel wurde über Josef Mengele geschrieben. Es überrascht deshalb ein wenig, dass im Bezug auf zahlreiche biografische Details noch immer Unklarheit herrscht.« Benzenhöfer hat sich die Doktorarbeit Mengeles vorgenommen, die die Note summa cum laude erhielt. 17 Probanden wählte Mengele unter 110 Patienten der Chirurgischen Unfallklinik Frankfurt aus. Anhand dieser Patienten stellte er Familienuntersuchungen bei 1222 Personen an. »583 davon besuchte Mengele persönlich«, so Benzenhöfer.
Mengele blieb bis 1940 in Frankfurt. Die Uni verlängerte seinen Vertrag bis 1942. Am 15. Juni 1940 jedoch wurde er eingezogen, in eine Sanitätseinheit nach Kassel. Später meldete er sich zur SS, ab Mai 1943 war er nach Auschwitz versetzt.
Nach dem Krieg enthob die Goethe-Uni Mengele »im Hinblick auf seine politische Haltung und Vergangenheit« im Juli 1945 schriftlich seines Amtes als Arzt und sperrte die Bezüge. 1961 entzog die Hochschule dem nach Südamerika Geflüchteten den Doktortitel – »wegen seiner als Arzt im Konzentrationslager Auschwitz begangenen Verbrechen«. Dagegen wehrte sich der eitle Mengele sogar aus seinem Versteck heraus. Der Frankfurter Anwalt Fritz Steinacker – Verteidiger vieler Naziverbrecher im Auschwitz-Prozess und Majdanek-Verfahren – übernahm 1961 die Vertretung des KZ-Arztes. Drei Jahre dauerte das Verfahren. Ende 1964 verkündeten die Rektoren der Frankfurter und Münchner Uni gemeinsam, dass Mengele nicht mehr berechtigt sei, den Doktortitel zu führen.
Details Ortmeyer ist selbst über die Fülle der zu Tage geförderten Details überrascht. Die Ringvorlesung hat er gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik konzipiert. Der hält es für exemplarisch, »wie auch eine ursprünglich von jüdischen Stiftern gegründete, liberale Universität nazifiziert worden ist«. Brumlik glaubt, dass dieser Teil der Geschichte womöglich im offiziellen Jubeljahr untergegangen wäre. Die Uni-Leitung habe die Ringvorlesung zwar ohne Probleme akzeptiert, »sie will das Jubiläum aber lieber als Sympathiewerbung nutzen«. Brumlik hofft jedoch, dass gerade Studenten und junge Dozenten sich der historischen Dimension bewusst werden.
Tanja Brühl, Vizepräsidentin der Goethe-Uni, versichert, dass die Universität auch »die dunkelsten Seiten ihrer 100-jährigen Geschichte in den Blick nehmen will«. Sie ist sicher, dass es nach den Jubiläumsfeiern unter Studierenden und Dozenten bekannter sein wird als bisher, dass Mengele an der Gothe-Universität war.
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