Im Jahr 1936 war an das, was später als Holocaust bekannt wurde, kaum zu denken: Das nationalsozialistische Deutschland rüstete sich, sein freundlichstes Gesicht zu zeigen. Wurden doch am 1. Juli in Berlin die Olympischen Sommerspiele eröffnet. So waren es nur ganz wenige, die das Unheil kommen sahen – einer jener wenigen bezahlte dafür mit seinem Leben: der jüdische Regisseur, Dichter und Journalist Stefan Lux.
Er war zum Zeitpunkt seines Todes erst 47 Jahre alt, glücklich verheiratet, hatte einen kleinen Sohn und schoss sich gleichwohl am 3. Juli 1936 im Plenum des Genfer Völkerbundes während einer Sitzung ins Herz – eine Verletzung, an der er kurz darauf starb.
Denkmal Diesem zu Unrecht weitgehend vergessenen Unheilspropheten hat der Publizist Rüdiger Strempel nun ein erschütterndes literarisches Denkmal gesetzt. Sein Buch Lux. Gegen den Nationalsozialismus und die Lethargie der Welt zeichnet die Lebensgeschichte dieses außergewöhnlichen Mannes präzise nach.
Dabei kommt das Wirken von Lux im kulturellen Berlin der 20er-Jahre ebenso treffend zum Ausdruck wie sein persönliches, durchaus gelungenes Leben, das gleichwohl seit dem Machtantritt Hitlers vom Antisemitismus im Deutschen Reich überschattet wurde – obwohl Lux seit geraumer Zeit nicht mehr in Berlin, sondern in Prag lebte.
Genf Von dort war Lux nach Genf gereist, um als akkreditierter Journalist jener Plenarsitzung des Völkerbundes beizuwohnen, bei der der äthiopische Kaiser Haile Selassie das faschistische Italien wegen des Angriffs auf sein Land kritisierte. Das Weltbild von Lux, der am 26. Juni nach Genf gereist war, verdüsterte sich in diesen Tagen so sehr, dass er den Entschluss fasste, sich aus Protest das Leben zu nehmen – was er einen Tag zuvor einem Freund, einem Arzt, mitteilte.
Lux, der sich in Genf für eine öffentliche Schwächung des Dritten Reiches einsetzen wollte, resignierte angesichts der »grauenhaft impotenten, grauenhaft vorsichtigen und wohltemperierten, apathischen Atmosphäre in Genf«. Seinem Freund teilte er mit: »Da habe ich umdisponiert. Ich werde in der nächsten Vollversammlung des Völkerbundes einen großen Eklat hervorrufen, indem ich mich während der Sitzung erschieße. Entsprechend verstärkende Begleitumstände, Briefe an maßgebende Persönlichkeiten, an einige Weltblätter, sind vorbereitet. Vielleicht gelingt es, durch dieses etwas abrupte Vorgehen einen Schock in dieser Gespenstergesellschaft hervorzurufen und die öffentliche Meinung in England, die so ungeheuer wichtig ist, zu beeinflussen.«
Quellen So präzise Rüdiger Strempel das Geschehen rekonstruiert, es um romanhafte Einschübe bereichert und sämtliche verfügbaren Quellen, Briefe und Zeitzeugnisse penibel auswertet, so unverständlich muss diese Tat dennoch bleiben. 1936 – das war zwar nach den rassistischen »Nürnberger Gesetzen«, aber doch vor der Sudetenkrise als auch vor dem Anschluss Österreichs. Tatsächlich schöpfte die Judenheit im Deutschen Reich wieder Hoffnung – und sei es auch nur auf geregelte Auswanderung ...
Knapp zwei Wochen nach dem weltweit durchaus beachteten Suizid fand, wiederum in Genf, die erste Tagung des Jüdischen Weltkongresses statt, bei der Nachum Goldmann einen Nachruf auf Lux hielt, den er mit folgenden Worten schloss: »Es gibt kein größeres Symbol des leidenden Judentums von heute, das immerzu nahe daran ist, zu verzweifeln, wie dieser verzweifelt war, es gibt kein tragischeres Symbol des leidenden jüdischen Menschen von heute als diese Erscheinung von Stefan Lux und seine Tat, die, ob sie nun gewirkt hat oder nicht, eine unvergessliche Erscheinung in der Geschichte dieser Jahre bleiben wird.«
Verstand Mit seiner alle noch vorhandenen Quellen und Materialien ausschöpfenden Monografie bringt Rüdiger Strempel eine Gestalt in unser Gedächtnis, die zu Unrecht dem Vergessen anheimgefallen ist – wenngleich dieses Vergessen verständlich ist: Der gemeine Menschenverstand (zumindest der des Autors dieser Zeilen) vermag dieses Selbstopfer nicht zu verstehen. In den letzten Jahrzehnten wurden derlei Selbstopfer vor allem als Selbstverbrennung buddhistischer Mönche, der Selbstverbrennung Jan Palachs im Protest gegen die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings sowie als Protest gegen die Endlagerung von Atommüll 1977 in Tübingen bekannt.
Im Judentum jedenfalls ist zwar der »Kiddusch ha Schem«, der mit Todesfolge einhergehende Widerstand gegen die Taufe, zulässig, auf keinen Fall aber der Suizid. Das Rätsel bleibt.
Rüdiger Strempel: »Lux. Gegen den Nationalsozialismus und die Lethargie der Welt«. Osburg, Hamburg 2020, 197 S., 22 €