Mit 16 Jahren tritt sie der Résistance bei, rettet jüdische Kinder und wird Kommunistin. Später wird sie Medizinerin und geht im Kampf für ein unabhängiges Algerien in den Maghreb und kommt dafür ins Gefängnis. Dann folgen Flucht und die Trennung von Familie und Kindern.
Heute lebt die 96-jährige Anne Beaumanoir im Süden Frankreichs. Dem außergewöhnlichen Leben der Französin hat die Schriftstellerin Anne Weber nun ein ebenso ausgefallenes Buch gewidmet: Annette, ein Heldinnenepos, das in dieser Woche mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.
Als literarische Form hat die Autorin das Epos gewählt.
»Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch Gott-hat’s-gemacht, im Süden Frankreichs. Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.« Mit diesen Sätzen beginnt das Buch, als dessen literarische Form die 55-jährige Autorin das Epos gewählt hat: ein antiker Referenzrahmen, in dem es traditionell um Götter und Helden geht, den Anne Weber auf ihre Weise gelungen ästhetisiert.
ANTIKE Der Stil ist rhythmisch, die Struktur der Verse erkennbar und die Spracharbeit von ungewöhnlicher Originalität. Wie auch schon in Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch, in dem sie sich auf die Suche nach den Spuren ihres Großvaters machte. Webers Texte zeichnen sich durch formale Experimentierfreudigkeit und sprachliche Beweglichkeit aus.
Die Heldin ihres neuen Buches, die am 30. Oktober 97 Jahre alt wird, hat Weber auf einer Podiumsdiskussion in Frankreich getroffen. Die Begegnung sei für Weber ein »coup de foudre« gewesen, Liebe auf den ersten Blick, wie sie schreibt. Daraufhin folgten mehrere Begegnungen mit Anne Beaumanoir, auch Annette genannt.
Weber nimmt die entsubjektivierte Position der Protagonistin ein, die ihr Leben dem Kampf für Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit gewidmet hat. Sie erzählt deren Biografie, die geprägt ist von Widerstand, Gewalt, Tod, Verrat, Gefängnis, Flucht und Exil. Nur wenige Unterbrechungen gönnt sich Annette. So studiert sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Medizin, wird Professorin für Neurophysiologie und dreifache Mutter.
ALGERIEN Nach ihrer Zeit bei der französischen Résistance wird sie in den 50er-Jahren aktives Mitglied der Nationalen Befreiungsfront FLN mit dem Ziel des Sozialismus und der Unabhängigkeit Algeriens. Warum? »Annettes reger Geist und ihre rege Zunge brauchen das Tätigsein; nur durch Bewegung und durch Tat leuchten ihr auch die Theorien ein«, schreibt die Autorin.
Für den französischen Staat wird Annette als FLN-Mitglied zur Terroristin und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie flieht nach Tunesien, wo sie als Ärztin kranken Menschen hilft. Als Frankreich die ehemalige Kolonie in die Selbstständigkeit entlässt, baut Annette in Algerien das Gesundheitswesen auf. Nach dem Militärputsch im Jahr 1965 flieht sie nach Genf, wo sie ihre Amnestie in Frankreich abwartet.
Wie kommt es, dass Revolutionäre später selbst foltern und töten?
Unter der achtjährigen Alleinherrschaft der FLN nach der Unabhängigkeit sollen mehr als 19.000 Zivilisten umgebracht worden sein, über 16.000 von ihnen waren Algerier – Rivalen der FLN oder Andersdenkende. Das Heldinnenepos schwankt zwischen Erzählung, Fakten und vielen Fragen, wie die, warum Revolutionäre später selbst foltern und töten? Menschen in Not helfen, sich der Humanität verschreiben und Jahrzehnte später größte Ungerechtigkeiten begehen – wie passt das zusammen?
Es sind quälende Fragen, die dieses subtile, originelle und ungewöhnliche Buch stellt. Aber die Lektüre lohnt sich: wegen der besonderen Geschichten, die Annette, ein Heldinnenepos erzählt. Und wegen der literarischen Experimentierfreudigkeit und der subtilen erzählerischen Vermittlung.
Anne Weber: »Annette, ein Heldinnenepos«. Matthes und Seitz, Berlin 2020.
208 S., 22 €