Entschleunigung pur: Ein alter Stummfilm ist manchmal besser als jeder neue Kinofilm, und sei er auch noch so raffiniert animiert. Das alte Gesetz von 1923 ist so ein Film, und die Welturaufführung der restaurierten Fassung an diesem Freitag im Berliner Friedrichstadtpalast könnte einer der Höhepunkte der diesjährigen Berlinale werden.
Zwei Stunden und 15 Minuten dauert der Spielfilm von Ewald André Dupont, und die Zeit wird nicht lang. Der Film erzählt von der Flucht des Rabbinersohns Baruch Mayer aus dem orthodoxen Elternhaus in Galizien und seiner Karriere als Schauspieler in Wien.
Das alte Gesetz gilt als eine der wichtigsten deutsch-jüdischen Filmproduktionen der Weimarer Republik: Der 1933 aus Deutschland emigrierte Regisseur Dupont legte die Handlung in die 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts und vollzog den Weg galizischer Juden von den östlichen Grenzen des Reichs in die Hauptstadt Österreich-Ungarns nach. Baruch, der bei einem Purimspiel in seinem Schtetl die Leidenschaft für das Schauspiel entdeckt, heuert gegen den Willen seines Vaters in einem Wandertheater an und macht Karriere am Wiener Burgtheater.
Jom Kippur Dennoch bricht er nicht vollständig mit der Tradition: Während er sich als Hauptdarsteller in Hamlet der Premierenvorstellung an Erew Jom Kippur nicht entziehen kann, liest er in der Garderobe traditionelle Gebete, anstatt den Shakespeare-Text zu proben. Cynthia Walk, emeritierte Professorin für deutsche Literatur und Film an der Yale University, schrieb über eine frühere Fassung: »Das alte Gesetz zieht sich von einer vollen Integration zurück und bietet stattdessen einen differenzierten Blick auf die Assimilation.«
Das Original des Stummfilms ist verschollen; die Deutsche Kinemathek hat die Filmszenen nach verschiedenen Exportfassungen restauriert. Sie wechseln sich mit Zwischentiteln ab, die aufgrund der wiederentdeckten Zensurkarte aus der Weimarer Republik rekonstruiert wurden. Die Filmmusik wurde von Philippe Schoeller neu komponiert; begleitet wird der Stummfilm bei seiner Premiere und weiteren Aufführungen im In- und Ausland vom Münchener Orchester Jakobsplatz unter der Leitung von David Grossmann. Die Musik lasse sich vom Rhythmus des Films beeinflussen und sei in ihrem Stil nicht definiert, »nur ein einziges Mal taucht ein Klezmer-Thema auf«, sagt Grossmann. Das alte Gesetz läuft am 19. Februar auf Arte und erscheint auch als DVD.
Ebenfalls in der Sektion »Berlinale Classics« wird eine digital restaurierte Fassung des Schwarz-Weiß-Films Life According to Agfa (1992) gezeigt – dem Klassiker des 2014 verstorbenen israelischen Regisseurs Assi Dayan, der verlorene Seelen in einer Bar in Tel Aviv porträtierte und damit die Dysfunktionalität der Gesellschaft beleuchtete (wobei Dayan seinerzeit betonte, Agfa könne an jedem Ort der Welt spielen).
Israel Der Boom des israelischen Films ist international ungebrochen – doch wo bleiben neue israelische Filme bei der 68. Berlinale? Weder im Wettbewerb noch in den wichtigsten Nebenreihen »Internationales Forum« und »Panorama« findet sich ein einziger Dokumentar- oder Spielfilm »made in Israel«.
Dafür wird Katriel Schory, Leiter des Israel Film Fund, mit einer Berlinale-Kamera ausgezeichnet. Im Wettbewerb wird zwar etwas Hebräisch gesprochen, allerdings »nur« in der amerikanisch-britischen Produktion 7 Tage in Entebbe von José Padilha, der die Entführung einer Air-France-Maschine 1976 durch palästinensische und deutsche Terroristen nacherzählt.
Starträchtig besetzt ist der Film mit dem israelischen Schauspieler Lior Ashkenazi als Yitzhak Rabin und mit Daniel Brühl als Anführer des Entführungskommandos. Ob der Thriller, der außer Konkurrenz läuft, aber mit seinen drei Vorgängern aus den 70er-Jahren mithalten kann – namentlich dem Oscar-nominierten israelischen Spielfilm Operation Thunderbolt (1977) von Menachem Golan mit Yitzhak Rabin als Yitzhak Rabin –, bleibt abzuwarten.
Tinder In der Sektion »Berlinale Series« wird die israelische Produktion Sleeping Bears von Keren Margalit gezeigt – die Regisseurin war auch an der Erfolgsserie Be-Tipul (In Therapy) beteiligt. Filme aus Israel finden sich bei der 68. Berlinale ansonsten nur im Kurzfilmwettbewerb und in der Jugendreihe »Generationen«. Das Themenspektrum ist wie oft erwartbar, wenngleich in den »Berlinale Shorts« zumindest spielerisch abgewandelt: In The Men behind the Wall arrangiert Regisseurin Ines Moldavsky Dates per Tinder mit palästinensischen Männern im Westjordanland und im Gazastreifen.
Schwere Kost serviert die Reihe »Generation 14Plus« ihren jugendlichen Zuschauern: In Para Aduma (Red Cow) der israelischen Regisseurin Tsivia Barkai Yakov entdeckt die 17-jährige Tochter eines Siedlers, der vom Bau des Dritten Tempels in Jerusalem träumt, ihre Liebe zu einer jungen Frau – und bricht mit ihrem fanatischen Vater.
Und in der kanadisch-dänischen Koproduktion What Walaa Wants dokumentiert Regisseurin Christy Garland das Leben des Mädchens Walaa, deren Mutter wegen eines geplanten Terroranschlags acht Jahre in einem israelischen Gefängnis saß. Walaa träumt davon, eine Waffe zu tragen und palästinensische Polizistin zu werden. Ihren Werdegang vollzieht Garland nach; das Ergebnis sieht man bei der Autonomiebehörde sicherlich nicht ungern.
Dissident Wer bei der 68. Berlinale dezidiert »Jüdisches« sucht, wird im Wettbewerb und in der Sektion »Internationales Forum« fündig: Regisseur Alexey German bewirbt sich mit Dovlatov um den Goldenen Bären und erzählt aus dem Leben des russisch-jüdischen Schriftstellers und Dissidenten Sergei Dovlatov (1941–1990), dessen Texte in der Sowjetunion nicht gedruckt werden durften.
Der Film Waldheims Walzer von Ruth Beckermann im Forum zeichnet hintergründig den Weg des früheren österreichischen Präsidenten und die Proteste jüdischer Organisationen gegen Kurt Waldheim wegen seiner NS-Vergangenheit nach. Die Autorin kann aus erster Hand erzählen – sie hatte in den 80er-Jahren selbst in Wien demonstriert und Protestaktionen gefilmt.
Und wer noch gezielter sucht, der entdeckt Juden auch in einem garantiert raffiniert animierten Film, allerdings hinter den Kulissen: Im Eröffnungsfilm der Berlinale Isle of Dogs von Wes Anderson leihen unter anderen die jüdischen Schauspieler Scarlett Johansson und Jeff Goldblum den Hunden ihre Stimmen.
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