Interview

»Streitbare, ungewöhnliche Perspektiven«

Bernd Buder, Programmdirektor des JFBB Foto: picture alliance/dpa

Von Dienstag bis Sonntag findet das Jüdische Filmfestival Berlin und Brandenburg (JFBB) statt. Großes Kino wird geboten, darunter einige Überraschungen. Programmchef Bernd Buder stellte sicher, dass die gesamte Bandbreite des jüdischen Films berücksichtigt wird.

Herr Buder, das JFBB 2023 deckt ja wirklich eine große Palette ab. Uns sind ein paar Filme aufgefallen, darunter Jewish Luck. Das Kollektiv Xenomara wird den Stummfilmklassiker »inszenieren«. Wie müssen wir uns dies konkret vorstellen?
Für mich gehört Jüdisches Glück zu den wichtigsten Klassikern der Filmgeschichte. Bis heute überzeugt, bei allem Ernst der Geschichte, die sich nach dem Dreh dieses Films ereignet hat, die spielerische Leichtigkeit. Jetzt können wir den Film als Zeugnis der Shtetl-Kultur auf dem Gebiet der heutigen Ukraine neu sehen. Das Potsdamer Künstlerkollektiv Xenorama wagt sich hier an eine ungewöhnliche Sound-Interpretation. Stummfilme waren ja nie »stumm«, sondern wurden fast immer von Musikern und Kinoerzählern begleitet. Xenorama wird zur Vertonung digitale Technologien und Künstliche Intelligenz einsetzen, bringt Farbe in den Schwarz-Weiß-Klassiker und schafft so eine Neuinterpretation. Auf das Live-Ergebnis bin ich selber auch gespannt, das dürfte ein Ereignis werden wie die Vertonung von Broken Barriers letztes Jahr durch Daniel Kahn und Yevas Lapsker, nur eben vollkommen anders. Beiden Events gemeinsam ist, dass sie weggehen von der klassischen Piano-Stummfilm-Begleitung und ganz neue Bild-Klangwelten schaffen.

Ein weiteres Werk, das in Ihrem Programm auffällt, ist Queen of the Deuce. Gibt es denn eine faszinierendere Geschichte als die von Chelly Wilson und ihrem Pornokino-Imperium? Wie hat Ihnen dieser Dokumentarstreifen gefallen?
Es gibt so viele faszinierende Geschichten in unserem Programm. Diese zeigt einmal mehr, wie divers die Welt gestrickt ist: eine Frau, die es geschafft hat, vor der Besetzung und der Schoa aus Griechenland in die USA zu fliehen, Familien-Übermutter und lesbisch, gründet das Pornokino-Imperium im Manhattan der 1970er-Jahre. Wobei »Imperium« für heutige Verhältnisse sicher etwas zu viel gesagt ist. Eine faszinierende Person, wenn es auch sicher nicht einfach war, sich ihr als Familienmitglied unterzuordnen. Dies ist ein lebhaftes biografisches Porträt, das Zeitgeist porträtiert, und irgendwie auch eine Art von Hoffnung, wie wir sie heute gerade nicht kennen. Dabei liegt der Fokus klar auf der Protagonistin, nicht auf Porno.

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Lassen Sie uns noch etwas mehr Rosinenpicken betreiben: Welcher Film ist Ihr Favorit im Doku-Wettbewerb des JFBB?
Einen Favoriten kann und will ich als Programmdirektor natürlich nicht nennen. Ich freue mich, dass der Dokumentarfilmwettbewerb inhaltlich, formal und von den Ländern, in denen sich die Geschichten ereignen oder ereignet haben, vielfältig ist wie nie: vom italienischen Zwillingsbrüder-Coming-of-Age-Porträt über die Lebensgeschichte Charlotte Salomons, ausgedrückt durch ihre eigenen, faszinierenden Zeichnungen, bis zum subtil-selbstironischen Altersporträt des US-Stardokumentaristen Ralph Arlyck und dem israelischen Knock on Door, in dem das Regie-Duo eine Einheit der israelischen Streitkräfte begleitet, die Familien gefallener Soldaten die Nachrichten vom Tod ihrer Kinder überbringt. Es ist fast schon unerträglich emotional, aber gerade heute extrem wichtig, sich zu überlegen, was da für Geschichten, für leidvollste Erfahrungen dranhängen hinter den Kriegsnachrichten, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, von überall in der Welt. Diese Geschichten vergisst man zu leicht. Und dann gäbe es noch die weiteren sechs Beiträge im Dokumentarfilmwettbewerb hervorzuheben.

Nun zu den zehn Kandidaten für den Gershon-Klein-Spielfilmpreis: Die Jury muss wohl an die 15 Stunden Material ansehen. Was wird den drei Mitgliedern in diesem Jahr geboten?
Auch der Spielfilmwettbewerb ist geprägt von inhaltlicher und formaler Vielfalt, zwischen einem Thriller wie The Man in the Basement über Romantische Tragikomödien wie America, den mediterranen Where Life Begins, die platonischen Gefühle einer orthodoxen Französin zu einem Italiener, bis zu June Zero, der die Atmosphäre während des Eichmann-Prozesses in Israel aus drei teilweise sehr ungewöhnlichen Perspektiven erzählt – und vom ukrainisch-französischen Shttl, einem Schtetl-Porträt vom Vorabend des deutschen Einmarsches in die Sowjetunion, der in seinem Titel bewusst auf das »e« verzichtet, um auf die Leerstelle zu verweisen, die durch die Schoa entstanden ist, bis hin zu March ‹68, der sich mit dem kaum aufgearbeiteten Thema des staatssozialistisch geförderten Antisemitismus im Rahmen der als »antizionistisch« und »antiimperialistisch« etikettierten Kampagne der sozialistischen Staatengemeinschaft gegen Israel im Rahmen des Sechstagekrieges beschäftigt.

Liebe, 1968, Ostblock, Unruhen: Kann »March ’68« als eine Art Nachfolger des Klassikers »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« angesehen werden?
Auf den Vergleich bin ich noch gar nicht gekommen, aber er gefällt mir! Geht es doch auch hier um eine durch die Politik zerstörte Liebe. Was mir an dem Film besonders gefällt, ist die Arbeit mit Archivmaterialien von Studentenprotesten aus dem Jahre 1968. Dadurch kommt einem diese unfassbare Geschichte noch näher. Eben weil die antisemitischen, mit Massenausweisungen verbundenen Vorgänge im sozialistischen Polen zu wenig bekannt sind, bieten wir dazu am Festival-Mittwoch eine vertiefende Podiumsdiskussion mit dem Regisseur, einem Zeitzeugen und Expertinnen an. Im Übrigen bin ich sehr stolz drauf, dass wir im Wettbewerbsprogramm drei sehr unterschiedliche polnische Filme bzw. Koproduktionen haben, die sich alle engagiert mit ›heißen Themen‹ beschäftigen.

»Jewcy movies« verspricht das JFBB. Dazu gehören auch saftige Horrorstreifen. Wie passen diese ins anspruchsvolle Bild des Festivals?
Als jüdisches Filmfestival hat man ja das Glück, sich nicht nur auf ein filmkünstlerisches Genre beschränken zu müssen, sondern – und das ist auch eine Aufgabe – die gesamte Bandbreite des Filmschaffens abzudecken. Genrekino gehört integral zum Kino, und es ist spannend, zu gucken, wie jüdische Motive in Horrorfilmen, in unserem Fall meist von selbst jüdischen Filmemachern, variiert werden. Wir haben vor, auch in den nächsten Jahren weiter ins Genrekino vorzustoßen. Gibt es etwa im Western Motive, die auf jüdischer Erfahrung beruhen? Gibt es jüdische Protagonisten? Indem wir uns mit Genrekino beschäftigen, zeigen wir noch stärker, dass wir uns nicht als Nischenfestival verstehen.

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Vorführungen des JFBB können auch in Brandenburg besucht werden, inklusive Frankfurt/Oder. Wie ist generell das Feedback im Nachbarbundesland?
Das kann man natürlich erst sagen, wenn das Festival vorbei ist. Es gab bei Kinos und Veranstaltern in Brandenburg, hier reicht die Bandbreite vom regionalen Kino bis zur Uni Viadrina, großes Interesse, Teil des Programms zu sein. Das ist ein gutes Zeichen. Dieses Jahr sind wir mit Veranstaltungen im Land Brandenburg in Eberswalde, Frankfurt (Oder) und Fürstenwalde vertreten, im Sommer noch in Cottbus. In der Landeshauptstadt Potsdam läuft das gesamte Programm sowieso. Es wäre noch mehr drin gewesen, aber dafür reichten die Kapazitäten leider nicht. Das Interesse ist toll und stimmt zuversichtlich, sicher bleiben wir auch in Zukunft ein jüdisches Filmfestival für das gesamte Land Brandenburg.

Ist die Finanzierung des JFBB gesichert?
Als jüdisches Filmfestival haben wir das Glück, dass wir eine gesicherte Finanzierung über die BKM (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Anm.d.Red.) haben – zwar nicht endlos, aber über drei Jahre. Damit haben wir schon einmal eine Basis. Mit dem Medienboard Berlin Brandenburg haben wir außerdem einen zuverlässigen Förderer. Weitere sind ebenfalls dabei. Trotz alledem müssen auch wir jedes Jahr neue Anträge stellen, aufgrund unserer Konzepte. Es wird von uns erwartet, dass wir uns Gedanken über innovative, relevante Programmideen machen.

Für das jüdische Kino gibt es viele Definitionen. Wie lautet die Ihre?
Dies ist eine Frage, die wir auch im Programmkollektiv ständig diskutieren. Was man grundsätzlich sagen kann: Es thematisiert alle Erfahrungen, in allen Richtungen, also Kultur, Geschichte, Humor und Religion. Eine eindeutige Definition gibt es nicht. Es beruht auf der Erfahrung und hat immer streitbare, ungewöhnliche Perspektiven.

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