Das Coronavirus wirft nach wie vor viele Fragen auf: Was nützen Gesichtsmasken, wie gefährlich sind Aerosole, was sagt uns der R-Wert, wie steht es um die Infektionen bei Kindern? Dass diese Fragen fundiert besprochen und teils auch beantwortet werden, ist hoch qualifizierten Wissenschaftlern zu verdanken, Virologen und Epidemiologen, um die uns viele in der Welt beneiden.
Doch irritiert verfolgt die Öffentlichkeit, wie namhafte Experten ihre gelegentlich höchst unterschiedlichen Meinungen in Zeitungen und TV-Talkshows präsentieren, sich dabei auch innerhalb von Tagen und Wochen selbst revidieren und gelegentlich anderen Experten heftig widersprechen. Da fallen dann auch mal Sätze wie: »Was der Kollege geäußert hat, halte ich zum Teil für gefährlich.« Google führt über 100.000 Suchergebnisse unter dem Stichwort »Epidemiologenstreit« auf.
intensität Wann hat es so etwas schon einmal gegeben? Und dann gleich in dieser Intensität? Wir sind es gewohnt, dass zum Beispiel auch in ökonomischen Fragen hart gerungen wird. Die selbstbewussten Wirtschaftsweisen vertreten andere Standpunkte als zum Beispiel das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Der Tonfall? Gemäßigt. Auch aus anderen Fakultäten hört man kein lautes Türenknallen.
Wir sind es gewohnt, dass zum Beispiel auch in ökonomischen Fragen hart gerungen wird.
Ein Grund mag im plötzlichen Anstieg der Popularität der Wissenschaftler liegen. »Epidemiologie« ist zwar immer noch ein Wort, bei dem man jeden Buchstaben überprüfen muss, ob er an der richtigen Stelle steht. Doch beraten diese Experten nun die Regierungsspitzen; alles hört auf ihren Rat. Da ist es verständlich, wenn dieser Bedeutungszuwachs zu Nebenwirkungen führt, die nur allzu menschlich sind.
Die »Zeit« berichtete kürzlich über die »Expertise-Falle« und zitierte dabei einen schwedischen Wissenschaftler, der die Selbstüberschätzung von Fachleuten erforscht. Und in der gleichen Ausgabe der Wochenzeitung erschien »ein Warnruf« von Thea Dorn: »Nicht predigen sollt ihr, sondern forschen!« Sie meint, Wissenschaftler hätten durch Zweifel zu glänzen, nicht durch Rechthaberei. Bereits in der Klimadebatte hätten sich einige von ihnen zu Ideologen gewandelt, dieses Unheil drohe jetzt auch der Epidemiologie.
»glaubenskrieg« Der »Spiegel« meint bereits, einen »Glaubenskrieg« zu erkennen, und widmete dem Virologen Christian Drosten unter der Überschrift »Verehrt und verhasst« die Titelseite. Das mit dem Glaubenskrieg scheint etwas übertrieben zu sein. Aber auf jeden Fall lohnt ein Blick auf unseren Glauben, unsere Religion, die den Gelehrtenstreit nicht nur kennt, sondern ausdrücklich anstrebt. Nur wird er anders formuliert: »Kinat Sofrim«, die Eifersucht der Gelehrten.
Talmudischer Streit ist auf den Inhalt, nicht auf die Person fokussiert.
Von jeder Art der Eifersucht soll man sich fernhalten, heißt es in jüdischen Erbauungsbüchern. Aber »Kinat Sofrim« wirke sich positiv aus, vergleichbar mit dem gegenseitigen Schärfen zweier Messer: Am Ende schneiden beide besser.
Gleiches galt zum Beispiel auch für die Talmudgelehrten, die sich nichts schenkten. Das gegenseitige Ereifern um die besseren Argumente mündete schließlich im grandiosen Werk des Talmud. Was wird hier gestritten! Jedes Wort wird auf die Waage gelegt. Doch von Animositäten liest man herzlich wenig.
gemeinschaftswerke Man stelle sich nun vor, die jüdischen Gelehrten wären übereinander hergefallen wie dessen Gegner über Christian Drosten. Aus den jüdischen Gemeinschaftswerken, wie dem Schulchan Aruch, wäre nichts geworden.
Für die jüdische Streitkultur stehen Raba und Abbaje, zwei babylonische Amoräer. Die beiden finden sich im Talmud auf fast jeder Seite wieder. Sie sind stets unterschiedlicher Meinung. Der Streit ist aber immer auf den Inhalt, nicht auf die Person fokussiert. Oder ein paar Generationen früher: Hillel und Schammai. Hier ist es die Mischna, die von den enormen Streitigkeiten zwischen den beiden Lehrhäusern lebt. Die Halacha schließlich wird rein objektiv nach dem Mehrheitsprinzip festgelegt.
Immer wieder taucht die Frage auf, wie das Judentum im Laufe der Jahrhunderte die gegensätzlichen Meinungen aushielt.
Immer wieder taucht die Frage auf, wie das Judentum im Laufe der Jahrhunderte die gegensätzlichen Meinungen aushielt. Wie war es möglich, dass die Klammer stets breit genug war für die Dispute zwischen Aschkenasim und Sefardim, Chassidim und Mitnagdim, Charedim und Nationalreligiösen? Warum gab es im Judentum nie eine Trennung wie zwischen Katholiken und Protestanten, Schiiten und Sunniten?
aphorismus Die Antwort liegt in einem Aphorismus begründet, der natürlich mehr ist als nur ein Sinnspruch. »Se wese Diwre Elokim Chaim«: Diese und diese Meinung entsprechen beide dem göttlichen Wort. Gott verhält sich zu divergierenden Meinungen wahrscheinlich toleranter, als wir uns das vorstellen.
Das Judentum mahnt seine führenden Schriftgelehrten nicht nur zur Toleranz gegenüber anderen Meinungen, auch in der Spiritualität, im Gebet, wird Einigkeit verlangt. So darf der Vorbeter in einer Gemeinde nicht mit den anderen Betenden zerstritten sein.
Übertragen auf den Gelehrtenstreit der Epidemiologen: Streitet euch, aber benehmt euch anständig in der Öffentlichkeit. Keilt nicht aus, sucht gemeinsam nach Lösungen und übt euch in Demut. Und für die Zuschauer gilt: Richtet euch nach der Mehrheit der Wissenschaftler. Nicht nach Quer- oder Schaumschlägern. Auch wenn die am lautesten sind.
Der Autor ist Journalist in der Schweiz.