TV-Serie

Stirb kitschig

Ein Zwilling überlebt Josef Mengeles Menschenversuche, tötet später einen SS-Arzt, der seinen kleinen Bruder zu Tode gequält hatte und rächt als Mossad-Agent im Ruhestand den Mord an seiner taubstummen Adoptivtochter vor den Augen eines Millionenpublikums im Internet, und zwar, so kündigt er an, mit Zyklon B.

Eine jüdische Studentin verliebt sich in einen Neonazi, erzählt ihm jiddische Witze, die er nicht versteht, und vergibt ihm seinen Verrat. Ein fieser Industrieller finanziert die Schlägertrupps der ultrarechten Szene und verbreitet seinen völkischen Sermon live im TV. Die Sender­chefin lässt den Rachefeldzug im Hochbunker direkt übertragen und will die Bilder an die Öffentlich-Rechtlichen nur für das Fünffache des üblichen Preises verkaufen. Und ein Rabbiner Grünbaum spricht weise: »Wenn jemand mit mir reden will, soll er reden. Wenn er schweigen will, soll er schweigen.«

Das sind die Zutaten, aus denen der Sechsteiler Turmschatten besteht. Da fragt man sich schnell: Ist das jetzt Kitsch, Kolportage oder eine cineastische Katastrophe? Eine einzige Geschmacklosigkeit, unglaubwürdig oder einfach nur peinlich? Oder vielleicht doch professionell konzipierte, genreübliche Action, klare Aufklärung über Rechtsradikale und eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus?

Der Sechsteiler verzichtet auf subtile Figurenzeichnungen und intellektuelle Reize.

Turmschatten ist dies alles gleichzeitig und somit äußerst ambivalent. Paramount+ hat mit großem Aufwand und deutschen Stars wie Heiner Lauterbach, Désirée Nosbusch und Ilja Richter einen Serien-Thriller produziert, den der Bezahlsender Sky nun ausstrahlt. Die Serie krabbelt tief hinein in die krudesten Klischeekisten, ist streckenweise dennoch unterhaltsam und kann sogar pädagogisch wirken.

Ein ehemaligen Weltkriegs-Hochbunker wird zum Hochsicherheitsrefugium

Das Ganze beginnt in München im Jahre 2005. Vor den Toren der Stadt hat Ex-Mossad-Agent Ephraim Zamir einen ehemaligen Weltkriegs-Hochbunker zu einem Hochsicherheitsrefugium umgebaut. Dort lebt er mit seiner taubstummen Adop­tivtochter Esther. Ephraim ist 70, topfit und, wen wundert es, selten fröhlich. Zu viele Traumata, in Rückblenden erzählt, rauben ihm den Schlaf.

Die Selektion an der Rampe von Auschwitz, die medizinischen Experimente und der Mord am Zwillingsbruder, der Verlust seiner jungen Familie in der Intifada, seine Jagd nach den Terroristen des Schwarzen September – der Mossad-Direktor während der Operation »Zorn Gottes« hieß tatsächlich Zamir, was sicher kein Zufall ist –, der Irrtum, in Lillehammer den Falschen erwischt zu haben … Viele Tragödien der jüngeren jüdischen Geschichte gehen in Ephraims Vita eine Melange ein.

In diesem Turm will er endlich zur Ruhe kommen, lernt die Gesten und Mimik­zeichen seiner Adoptivtochter deuten und möchte sein Vermögen für den Bau einer Synagoge spenden. Aber drei Nazischläger sollen genau das verhindern. Sie bedrohen ihn, der Jüngste von ihnen, fast noch ein Kind, erschießt die Tochter und entkommt.

Zamir lässt ein Millionen­publikum im Internet darüber abstimmen, ob die Schlägertypen leben dürfen oder vergast werden sollen

Daraufhin nimmt Zamir die beiden Älteren als Geiseln und lässt ein Millionen­publikum im Internet darüber abstimmen, ob die Schlägertypen leben dürfen oder vergast werden sollen. Ein Privatsender sendet das alles live und informiert Zamir so auch über den Stand der polizeilichen Aktivitäten rund um den Hochbunker.

Die legendäre Fernsehjagd von Wolfgang Menges Millionenspiel stand hier wohl ebenso Pate wie Ferdinand von Schirachs Terror. Turmschatten, das auf einem Roman von Peter Grandl basiert und von Thomas Peter Friedl produziert wurde, verzichtet allerdings auf subtile Figurenzeichnungen und intellektuelle Reize – zumindest weitgehend.

Heiner Lauterbach gibt den coolen Rächer. Ilja Richter überrascht als weiser Rabbi Grünbaum.

Ist das nun alles per se schlecht? Wechseln wir doch die Perspektive, und zwar weg von Maßstäben aus dem cineastischen Elfenbeinturm hin zur Realität. 20 Prozent der Jugendlichen im Alter von unter 16 Jahren wissen heute nicht, wofür Auschwitz steht, wozu Judenhass führen kann. Diese Generation wächst mit den grellen Reizen von TikTok und Instagram auf. Schnelle Schnitte und ständige Special-Effekt-Feuerwerke haben ihre Sehgewohnheiten grundlegend verändert.

Die Personen bleiben allesamt Stereotype

Die Schauspieler passen sich genau diesem Setting an und erweitern dennoch den Radius des Erwartbaren: Heiner Lauterbach als wütender Mossad-Senior mit coolem Habitus gibt einen Rächer, der weniger hart agiert, als er auf den ersten Blick erscheint.

Désirée Nosbusch, eine erfolgsverwöhnte Chefredakteurin, überrascht als standfeste Journalistin, und die zwei von Paul Wollin und Klaus Steinbacher hervorragend verkörperten Neonazis zeigen, wie brutale Indoktrination funktioniert und auf welche Weise Hass Seelen zerstören kann. Und Ilja Richter überrascht als weiser Rabbi Moshe Grünbaum.

Trotz aller schauspielerischer Leistun­gen: Die Personen bleiben allesamt Stereotype. Liebhaber niveauvoller, hintergründiger Serien mit intelligenten Wendungen in den Dialogen kommen bei Turmschatten garantiert nicht auf ihre Kosten. Die Produktion mag auf ein abgebrühteres Publikum abzielen. Zudem sind die Handlungen zu grob gezeichnet. Spannungsbögen liegen zu nah aneinander, all das ermüdet.

Der Schluss allerdings, der hier nicht verraten werden soll, macht manches wieder wett. Er erschüttert, er lässt offen, ob das Böse siegt oder das Gute, und er passt zur bitteren Erkenntnis vom Anfang des Sechsteilers: »Dein Glück, Gott, dass Du so hoch wohnst.«

Sendetermine: 29. und 30. November sowie 1. Dezember auf Sky Atlantic

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