Im Januar 2000, als wieder einmal Hisbollah-Katjuschas aus dem Südlibanon in ihrem Wohnort Kfar Veradim in Nordgaliläa niedergingen, schickte Sara Shilo ihre fünf Kinder und ihren Mann in den Schutzbunker. Sie selbst blieb zu Hause. Die Tür klappte zu, und sie schrieb die ersten Seiten ihres Romans Zwerge kommen hier keine. Fünf Jahre später erhielt Shilo für ihren Erstling den begehrten Sapir-Preis, Israels höchste literarische Auszeichnung. Ihr Buch belegte wochenlang Platz eins der israelischen Bestsellerliste. David Grossman lobte das Kunstvolle des Romans und meinte, er kenne nichts Vergleichbares in der hebräischen Literatur.
ungefiltert Schum gamadim lo jawou, so der hebräische Originaltitel, gibt Menschen aus der Unterschicht eine Stimme, deren gebrochene, fehlerhafte Sprache und Verlorenheit bislang kein Gegenstand der israelischen Literatur war. Shilos Roman besteht aus Monologen, die mit grammatikalisch falschem, verstörend wildem Sprechfluss einen ganz eigenen poetischen Ton erzeugen. Das Buch beginnt mit dem ungefilterten Gedankenstrom der »halblebigen« Witwe Simona, die in einer Nacht, als Raketen über den Wohnort hinwegfliegen, ihre fünf Kinder zurücklässt, um auf einem Fußballfeld Stationen ihres Lebens zu beschwören und den Tod herbeizusehnen. Schluss soll endlich sein mit den missgünstigen Zumutungen der arabischstämmigen Nachbarschaft, die die Witwe beäugt. Schluss mit der Armut und dem Lügennetz, in das sie sich verstrickt, um den Jüngsten Normalität vorzuspielen. »Wenn der Mann stirbt, muss man die Frau wieder so machen, wie sie war, bevor sie ihn getroffen hat. Dass sie noch mal da steht, von wo er sie weggenommen hat. Dass man sie nicht mitten in der Wüste allein lässt mit allen seinen Kindern, wo sie schon müde ist von den Geburten. Und wo ihr ganzer Körper schon voll mit Zeichen ist.«
puppenspiel Wie ihre in Marokko geborene Romanheldin ist auch Sara Shilo orientalische Jüdin. Ihre Mutter wurde im Irak geboren, der Vater in Syrien. Nach ihrer Ankunft in Israel lebte die Mutter drei Jahre lang in einem Zelt, der Vater schlug sich als Packer im Hafen von Haifa durch. Später besaß er Restaurants in Jerusalem. Materiellen Mangel hat Sara Shilo nie kennengelernt, aber das Bedürfnis, denen etwas zu geben, die wenig haben, sei immer da gewesen, sagt sie; auch der Wunsch nach Kontakt zu jüdischen Einwanderern aus arabischen Ländern. Seit 1976 lebt die Autorin in Nordgaliläa. Mit einer Gruppe junger Leute, die sie aus ihrer Zeit bei der Armee kannte, ging sie nach Maalot, um Sozialarbeit zu leisten.
Nachbarn Drei Jahre später zog sie mit ihrem Mann und zwei Kindern ins benachbarte Dorf Kfar Veradim. Der 800 Meter hoch gelegene Ort hat 1.500 Einwohner. Jeder nördlich von Haifa lebende Israeli kennt ihn – wegen der Felsmassive und der Schönheit des Ausblicks über weite Bergkuppen. Am Leben in Kfar Veradim schätzt Shilo, dass Juden und Araber hier die meiste Zeit entspannt nebeneinander leben und die Politik wenig eindringen lassen in ihr nachbarschaftliches Verhältnis. Mehrere Jahre lang hat sie in einer gemischten Gruppe die Bibel und den Koran gelesen, fünfzehn Jahre lang selbst geschriebene Kindergeschichten in Schulen und Gemeindezentren vorgelesen. Danach spielten die Drei- bis Achtjährigen die Geschichten mit Puppen nach. Die Nachfrage war groß, Shilo schick-te zuletzt vierzehn Helfer mit ihren Ge-schichten, die auch ins Arabische übersetzt wurden, durch ganz Galiläa.
zuspruch Die Arbeit an Zwerge kommen hier keine hat der pädagogischen Arbeit ein vorläufiges Ende bereitet. Jetzt sind es Erwachsene, die Shilo am Telefon oder in Briefen mitteilen, was ihnen die Geschichten der Witwe Simona und ihrer einsamen Kinder bedeuten. Sara Shilo freut sich sichtlich darüber, dass ihr Roman das Leben der Leser oft unmittelbar berührt. Sie erzählt von einer Putzfrau, die das Buch einem Krankenhausarzt, dessen Stationsräume sie säuberte, mit den Worten überreichte: »Wenn Sie das lesen, wissen Sie, was mir seit dreißig Jahren durch den Kopf geht und was ich nicht herausbringe.« Solche Reaktionen geben ihr Kraft für den Alltag mit ihrem Mann. Er erkrankte mit vierzehn Jahren zum ersten Mal an Krebs und heilte aus eigener Kraft fünf Rückfälle. Jetzt hilft er Leidensgenossen. An der Wand im Wohnzimmer steht eine ausklappbare Pritsche, auf der Shilos Mann Patienten physiotherapeutisch behandelt und ihnen spirituelle Kraft für den Kampf mit dem Krebs gibt.
Sara Shilo sitzt derweil an ihrem neuen Roman. Doch darüber will sie jetzt nicht sprechen. Stattdessen klappt sie ihr Handy auf und zeigt ein Foto ihres ersten, Ende Dezember 2009 geborenen Enkelkindes, erzählt, dass sie sich über sich selbst gewundert hat, wie sie um das Neugeborene herumsprang und es ständig knipste. Für diese Erfolgsautorin gibt es Wichtigeres als ihr nächstes Buch.