Im Frühjahr 2008 erhielt die Schriftstellerin Nadine Gordimer in ihrem Haus in Johannesburg eine Art offenen Erpresserbrief. Absender war ein gewisser Haidar Eid, seines Zeichens Englisch-Professor an der Al-Aqsa-Universität in Gaza. Nach einigen honigsüßen Lobesworten für die »antikolonialen« Romane der Autorin wurde diese umso harscher vor der geplanten Teilnahme an einem Literaturfestival in Israel gewarnt – andernfalls, so der Professor, könne er seine Studenten nicht mehr von der Überzeugung abhalten, dass sie auf »die Seite der Unterdrücker« gewechselt sei und damit jedes ihrer bisherigen Worte negiere.
Nadine Gordimer, geboren am 20. November 1923 im südafrikanischen Transvaal, hatte zeitlebens gegen Zumutungen, Unterstellungen, Missverständnisse und natürlich auch mit offenem Hass zu kämpfen. Dass sie es auf ihre Weise tat – in einem bis heute eminent lesbaren und umfangreichen Roman- und Erzählwerk voller Eleganz und schmerzlicher Schönheit, doch ohne pamphletartiges Eifern – ist ein großes Geschenk, das noch immer fortwirkt.
Geboren als die Tochter einer jüdischen Engländerin und eines eingewanderten Juden aus Litauen hatte sie schon früh erfahren, dass ein wirkliches Außenseitersein sich zumeist im Plural manifestiert: Als einziges, wenn auch nicht religiöses jüdisches Mädchen auf einer katholischen Konventsschule, als dort katholisch erzogene Anglophone in einem Afrikaans sprechenden burisch-calvinistischen Umfeld, als Anti-Apartheid-Weiße innerhalb einer repressiv-hartherzigen Mehrheitsgesellschaft – und nicht zuletzt als skeptische Liberale innerhalb ihres Zirkels schwarzer Freunde und Aktivisten, die sich oftmals als Marxisten verstanden.
Wo sich andere im Labyrinth der Ideologien verirrt hätten, schrieb Nadine Gordimer Literatur.
Wo sich andere im Labyrinth der Ideologien verirrt hätten, schrieb Nadine Gordimer jedoch Literatur, und zwar in einem Stil, in dem sich eine unaufdringliche Empathie und ein feiner Sinn für (Selbst-)Ironie auf das Wunderbarste begegnen – von einer ganz frühen, bereits 1951 im renommierten »New Yorker« abgedruckten Erzählung bis zu ihrem letzten großen Roman Keine Zeit wie diese, erschienen 2012, zwei Jahre vor ihrem Tod. Was hatte dieser grazilen und verletzlich wirkenden Frau, die bei Begegnungen eine immense Freundlichkeit ausstrahlte, solche Kraft gegeben?
Da war zum einen ihre große Lebensliebe, die glückliche zweite Ehe mit dem 1935 aus Deutschland geflüchteten Galeristen Reinhold Cassirer, einem Neffen des berühmten Philosophen Ernst Cassirer. Sodann das Umfeld jüdischer Anti-Apartheid-Aktivisten, die für ihre Unterstützung des African National Congress (ANC) und Nelson Mandelas langjährige Haft oder Flucht aus Südafrika hatten auf sich nehmen müssen – Menschen wie Arthur Goldreich, Harold Wolpe, Lionel »Rusty« Bernstein, Joe »Jossel« Slovo, Denis Goldberg oder Harry Schwarz.
Nelson Mandela, dessen Shakehands mit Jassir Arafat nach 1994 durchaus für Irritation sorgte, hatte es seinen jüdischen Freunden zeitlebens nie vergessen, dass sie in den Jahrzehnten größter Bedrängnis an seiner Seite gewesen waren. Und was die schändliche und in der israelischen Öffentlichkeit bereits damals kontrovers diskutierte militärische Zusammenarbeit Israels mit dem einstigen Apartheid-Regime betrifft: Es ist das Jüdische Museum in Kapstadt, das ebendiesen Skandal thematisiert, in der besten Tradition jüdischer Ethik und Machtkritik.
Wobei sich »Macht« auf mannigfache Weise manifestieren kann: in südafrikanischen Polizeizellen während der Apartheid, bei ethnisch homogenen Grillpartys sogenannter »aufgeschlossener Weißer«, in »gemischten« Partnerschaften voller Schieflagen und Fallstricke.
Und Nadine Gordimer war die unbestechliche, psychologisch geradezu beängstigend präzise Chronistin all dessen.
Auf den Erpresserbrief aus Gaza von 2008 hatte sie nicht geantwortet, sondern war selbstverständlich nach Israel gefahren.
Als 1979 ihr regimekritischer Roman Burgers Tochter von den südafrikanischen Kommunisten ob vermeintlich »defätistischer Tendenzen« angegriffen wurde, schmuggelte sie ein Exemplar zu Nelson Mandela auf die Gefangeneninsel Robben Island. Kurz darauf erreichte sie klandestin ein handgeschriebener Zettel des Freundes: »Well done, Nadine.« Was sie späterhin, schließlich Nobelpreisträgerin des Jahres 1991, auch dazu ermutigte, die ANC-Korruptionsstruktur der Nach-Mandela-Zeit in ihren Romanen zu demaskieren – und das heuchlerische Hecheln der ehemals dominierenden Weißen gleich mit.
Auf den Erpresserbrief aus Gaza hatte sie nicht geantwortet, sondern war selbstverständlich nach Israel gefahren – und kam mit einem sensiblen, wenn auch ganz und gar nicht unkritischen Text nach Johannesburg zurück. Besagter Professor aber hat sich im vergangenen Monat noch einmal öffentlich zurückgemeldet – mit einem atemberaubend infamen Vergleich des Hamas-Massakers mit dem Warschauer Aufstand von 1944.
Wie tröstlich deshalb, ja offensiv ermutigend, dass es inmitten all dieser bösartigen Verdrehungen und Umwertungen die klare Stimme Nadine Gordimers gegeben hat. Und dass es sie noch immer gibt in ihren zahlreichen Büchern.