Erster Weltkrieg

Startschuss zur Ausgrenzung

»Je mehr Juden in diesem Krieg fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen« (Walther Rathenau): Denkmal auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee Foto: Marco Limberg

Ernst Toller, der Schriftsteller und spätere Pazifist, meldete sich im August 1914, wenige Tage nach Kriegsausbruch, 21-jährig als Freiwilliger beim 1. Königlich Bayerischen Fuß-Artillerie-Regiment zum Einsatz an der Front. Er kämpfte bei Verdun, wurde rasch zum Unteroffizier befördert und versuchte dem alltäglich erlebten Grauen mit dem Schreiben von Gedichten beizukommen.

1916 erlitt Toller einen Zusammenbruch und schied aus dem Dienst. Als Anerkennung für seinen tapferen Einsatz für Kaiser und Reich erhielt er das Eiserne Kreuz. »Sehen Sie«, beschied ihm gönnerhaft ein Offizier, »nun ist der Makel Ihrer Herkunft wettgemacht.«

hetze Im Jahr des Gedenkens an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren liest man solche Anekdoten selten. Monumentalschauen wie im Deutschen Historischen Museum in Berlin oder im Haus der Geschichte in Stuttgart warten mit einer gruseligen Sammlung von Devotionalien auf – Gasmasken, Armprothesen, Ernst Jüngers Stahlhelm – und verlieren sich in einem »Labyrinth von Einzelheiten«, so die Süddeutsche Zeitung.

Heinz Högerle und Barbara Staudacher haben 60 Kilometer südlich von Stuttgart, in Horb am Neckar, ebenfalls eine Ausstellung konzipiert. Die beiden sind aktiv im »Verein ehemalige Synagoge Rexingen« und Betreiber des »Museums Jüdischer Betsaal«. Nachkommen von Emigranten aus den süddeutschen Judendörfern am oberen Neckar haben Högerle und Staudacher Materialien zur Verfügung gestellt: Briefe, Tagebücher, Fotos von jüdischen Frontsoldaten, vor allem aber: skizzierte Lebenswege, die mehr berühren als Fundstücke von Schlachtfeldern. »Bei uns gibt’s keine Pickelhauben zu sehen«, sagt Högerle. Die Schau erzählt von den Menschen im Dorf – und sie thematisiert das Menetekel der »Judenzählung«.

erlass Am 11. Oktober 1916, zwei Jahre und zwei Monate nach Kriegsbeginn, wurde der geplante Erlass über die »Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden« publik. Je länger der erhoffte rasche Sieg auf sich warten ließ, desto anfälliger war die Stimmung für die Hetze der Antisemiten: Drückten sich die Juden vor dem Kriegsdienst? Kauften sie sich frei?

Vorgeblich um derlei Schmähungen Fakten entgegenzusetzen, sollte die Zahl der Juden im Heer erfasst werden. Gustav Stresemann, Abgeordneter der Nationalliberalen und später in der Weimarer Republik Außenminister, empfahl, die Judenzählung als »Klarstellung« zu verstehen: Man erwecke sonst »den Anschein, als ob es etwas zu vertuschen gäbe«. Eine liberale Zeitung kommentierte daraufhin, es sei absurd, den Antisemitismus durch Mitmachen bekämpfen zu wollen.

Die Zählungsaktion war europaweit einmalig. »Auch in anderen kriegführenden Staaten mussten sich Juden mit antisemitischen Affekten herumschlagen, aber in keinem Land der Welt war die Hetze gegen jüdische Soldaten so aufdringlich wie in Deutschland«, schreibt der Historiker Götz Aly in seiner Studie Warum die Deutschen, warum die Juden?. Österreichs Antisemiten etwa forderten, dem Berliner Beispiel zu folgen – die Regierung in Wien lehnte das ab.

schock Der zum 1. November 1916 in Kraft tretende Erlass war für die in ihrer großen Mehrheit assimilierten und hoch patriotischen deutschen Juden ein Schock. Die lange gehegte Hoffnung, durch glühende Vaterlandsliebe und soldatischen Einsatz an Ansehen zu gewinnen und endlich gesellschaftliche Gleichberechtigung zu erlangen, war dahin.

Dabei hatte Kaiser Wilhelm II. bei Kriegsausbruch erklärt: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche ... ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied.« Drei Tage nach der Kaiserrede, am 7. August 1914, rief der »Verband der deutschen Juden« auf: »Deutsche Juden! In dieser Stunde gilt es für uns, aufs Neue zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören. Wir erwarten, dass unsere Jugend freudigen Herzens zu den Fahnen eilt.«

Auch Otto Sally Schwarz und Joseph Zürndorfer aus dem Kreis Horb folgten dem Aufruf, wie insgesamt 96.000 Juden, die für das Reich kämpften – Schwarz in Flandern, Zürndorfer bei Verdun. Schwarz wurde dreimal verwundet, mit dem Eisernen Kreuz und dem Ritterkreuz dekoriert und schied als Leutnant der Reserve aus dem Dienst. Zürndorfer starb als tragischer Held: Kaum von einer Verwundung genesen, meldete er sich zur Pilotenausbildung nach Berlin, wo er bei seinem Prüfungsflug von einer zweiten Maschine gerammt wurde, abstürzte und starb.

Am 23. September 1915, ein Jahr, bevor offiziell die angebliche Drückebergerei von Juden belegt werden sollte, trug man ihn mit militärischen Ehren zu Grabe. Sein Heimatort Rexingen erlebte »einen imposanten Leichenzug, wie ihn das Dorf noch nicht gesehen hatte: Hohe Militärs und Bürger jüdischen wie katholischen Glaubens erwiesen ihm die letzte Ehre«, berichtete das Lokalblatt.

Ein Satz des Gefallenen klingt bis heute bitter nach: »Ich bin als Deutscher ins Feld gezogen, um mein bedrängtes Vaterland zu schützen. Aber auch als Jude, um die volle Gleichberechtigung meiner Glaubensbrüder zu erstreiten.«

ehre Über die historische Einordnung der Judenzählung streiten sich die Geschichtswissenschaftler. War sie, wie Werner Angress glaubt, lediglich ein »taktischer Schnitzer«, der bei einem anderen Verlauf der deutschen Geschichte – Deutschland gewinnt den Krieg, dem Land bleiben Revolution, Reparationszahlungen und eine von Anfang an geschwächte Demokratie erspart – eine Episode der Wilhelminischen Epoche geblieben wäre? Oder war die Zählung eine »antisemitische Welle«, mit der die Gleichsetzung von Juden und Vaterlandsverräter begonnen hat (so Hans Mommsen) und auf der die Antisemiten inner- und außerhalb des Offizierskorps bis in die Nazizeit surften (Wolfram Wette)?

In jedem Fall änderte sich 1916 das Klima im Land nachhaltig, schreibt Jacob Rosenthal in seinem Buch Die Ehre des jüdischen Soldaten: »In den Parlamenten und Institutionen begann man, nach der Religion zu fragen und den Prozentsatz jüdischer Angestellter zu veröffentlichen.«

Laut Zählung vom Herbst 1916 stellten übrigens die Juden, gemessen an der Gesamtbevölkerung, ebenso viele Soldaten wie die christliche Mehrheit, und dies obwohl die jüdische Bevölkerungsgruppe einen höheren Altersdurchschnitt aufwies (also weniger junge Männer stellte) und überdies viele junge jüdische Männer zum Christentum konvertiert waren.

Doch Tatsachen konnten gegen den antisemitischen Affekt nichts ausrichten. Walther Rathenau schrieb im Sommer 1916, noch vor dem Erlass, mit feinem Gespür: »Je mehr Juden in diesem Krieg fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen.« Und Martin Buber veröffentlichte ein ironisches Prosagedicht: »Wir sind das Gezähltwerden gewöhnt. Russland zählt unsre Kinder in seinen Schulen und Polen unsre Arbeiter in seinen Kommunalunternehmungen; ob ihrer nicht zu viele sind. Ein deutscher Studentenverein hat angeregt, unsere Gefallenen auf den Schlachtfeldern zu zählen. Es schienen ihm ihrer nicht genug zu sein.«

Die ideologische Saat der »Judenzählung« ging im Dritten Reich voll auf. Im August 1935 erhielt der dekorierte Weltkriegsleutnant Otto Sally Schwarz Post von Generalmajor a.D. Klotz, Ortsgruppenführer des Reichsverbands deutscher Offiziere: »Juden können nicht Mitglieder des Reichsverbands deutscher Offiziere sein, auch wenn sie Frontkämpfer waren. Sie wurden aus der Mitgliederliste gestrichen. Heil Hitler!«

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