Wuligers Woche

Spur des Steines

Über Symbolpolitik in der Nachbarschaft

von Michael Wuliger  20.02.2020 13:18 Uhr

Der Walter-Benjamin-Platz in Berlin-Charlottenburg Foto: imago images / Schöning

Über Symbolpolitik in der Nachbarschaft

von Michael Wuliger  20.02.2020 13:18 Uhr

Der Antisemitismus ist endgültig besiegt. Zumindest am Walter-Benjamin-Platz in Berlin-Charlottenburg. Dort ist vor drei Wochen eine Bodenplatte mit einem Zitat entfernt worden. »Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein. Die Quadern wohlbehauen fugenrecht, dass die Stirnfläche sich zum Muster gliedert«, lautete es.

Es stammte von Ezra Pound. Der amerikanische Lyriker war ein führender Vertreter der literarischen Moderne und glühender Judenhasser. Wen er mit »Usura«, deutsch: »Wucher«, im Sinn hatte, lässt sich erahnen.

Skandalon Ich wohne seit 20 Jahren gegenüber vom Walter-Benjamin-Platz. Ein-, zweimal täglich gehe ich über ihn. Die Platte mit dem Zitat war mir in all der Zeit nie aufgefallen. Erst aus den Medien habe ich von dem Skandalon direkt vor meiner Nase erfahren.

Und auch dann, muss ich gestehen, wollte sich bei mir nicht so recht Empörung einstellen. Vielleicht war ich zu beschäftigt mit anderen Dingen wie antisemitischem Mobbing an Berliner Schulen.

Selbst unter Literaturwissenschaftlern gilt Pounds Dichtung als schwer verständlich.

Oder mit dem Syrer, der kurz vor Rosch Haschana mit einem Messer in der Hand und »Allahu Akbar« rufend auf die Synagoge in der Oranienburger Straße zugestürmt war und nach Feststellung der Personalien wieder freigelassen wurde, weil, wie der zuständige Oberstaatsanwalt erklärte, es sich nur um versuchten Hausfriedensbruch handele.

Von dem Zitat am Walter-Benjamin-Platz werden diese und die vielen anderen judenfeindlichen Vorfälle in Berlin mutmaßlich nicht inspiriert worden sein, schon weil Pounds Dichtung selbst unter Literaturwissenschaftlern als schwer verständlich gilt.

Politik Aber nachdem eine progressive Architekturzeitschrift voriges Jahr den in Granit eingelassenen Satz als Beispiel »rechter Räume« identifiziert hatte – neben Hitlers und Mussolinis Geburtsorten, dem Kyffhäuser in Thüringen und einer 36 Meter hohen Christusstatue in Polen –, sah die lokale Politik sich gefordert.

Die Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf beschloss, »dass die antisemitisch konnotierte Bodenplatte auf dem Walter-Benjamin-Platz entfernt wird«.

Die schlechte Nachricht ist, dass täglich neue antisemitische Übergriffe geschehen.

So geschah es jetzt. »Eine gute Nachricht« sei das, erklärte der zuständige Baustadtrat. Die schlechte Nachricht ist, dass derweil in Berlin und anderswo fast täglich neue antisemitische Übergriffe geschehen. Das ist das Problem mit Symbolpolitik.

Geste Der Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli definiert sie als »öffentlich dargebotene Täuschung oder Ersatzhandlung, die von der tatsächlichen politischen Wirklichkeit ablenken soll«. Und Wikipedia weiß, dass diese »auf Gesten beruhende Politik … nicht unmittelbar die konkrete Situation oder das konkrete Problem ändert«.

Der Stein des Anstoßes ist weg. Der Hass auf Juden bleibt. Dass das Ezra-Pound-Zitat entfernt wurde, weiß ich übrigens aus der Zeitung. Selbst habe ich das Verschwinden ebenso wenig bemerkt wie in den Jahren zuvor die Präsenz des Stücks Granit. Meinetwegen hätte man sich das ganze Bohei sparen können.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025