Herr Wiese, im Dezember haben Sie zu einem dreitägigen internationalen Kongress geladen, der sich mit der Bedeutung der Werke des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813–1855) für jüdische Denker im 20. Jahrhundert befasste. Was hat Sie zu dieser Konferenz veranlasst?
Es ist erstaunlich, wie viele jüdische Gelehrte sich im 20. Jahrhundert mit Kierkegaard auseinandersetzten, und auffällig, welche Rolle dieser nichtjüdische Philosoph für jüdisches Denken spielte. Wir haben über die Gründe dafür diskutiert. Ich betreue gerade eine Doktorandin, die sich mit Hannah Arendts politischer Lektüre von Kierkegaards Werken befasst. Und wir haben mit Heiko Schulz einen systematischen Theologen und Kierkegaard-Spezialisten an unserem Fachbereich. Frankfurt war also ideal für eine solche Konferenz.
Der Zuspruch war groß. Die Teilnehmer kamen aus Israel, Kanada, den USA und ganz Europa. Haben Sie einen Nerv getroffen?
Es scheint so. Die Reaktionen waren begeistert. Vielen ist die Bedeutung des Themas bewusst, aber bisher liegt noch keine systematische Forschung dazu vor. Dabei haben wir für unsere Konferenz unter den zahlreichen jüdischen Lektüren Kierkegaards sogar nur eine Auswahl treffen können. Er spielte in der Philosophie ebenso eine Rolle wie in der Literatur – etwa für Adorno, Lévinas und Martin Buber, aber auch für Kafka und Paul Celan.
Was war so reizvoll an dem Dänen für jüdische Denker?
Kierkegaard war ein Philosoph, der in untraditioneller Weise über Religion und Christentum nachgedacht, sich gegen das kirchliche Establishment gewandt und neu über das Irrationale des Glaubens geschrieben hat. Seine Abwendung von liberalen Konzepten, von den Ideen Hegels oder Kants, entsprach auch der Suche nach neuen Herausforderungen im jüdischen Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Faszination übte ebenfalls seine Deutung der Opferung Isaaks durch Abraham aus, eine schwierige Geschichte, die auch in der jüdischen Tradition eine wichtige Rolle spielt. Kierkegaard deutete sie als einen Sprung in den Glauben, ein Sich-Ausliefern ohne Halt oder Garantie.
Kierkegaard wird auch Antisemitismus und Antijudaismus zugeschrieben.
Er hegte sehr zwiespältige Auffassungen über das Judentum, die Peter Tudvad, Referent unserer Tagung, für antisemitisch hält. Er spitzt seine These sogar so weit zu, dass er Kierkegaard auch politische und rassistische Vorstellungen zuschreibt. Das ist umstritten, denn Kierkegaards Äußerungen werden sonst vielfach im Sinne eines lutherischen Antijudaismus erklärt. Seltsamerweise spielt die Frage nach dem Antisemitismus aber bei den jüdischen Philosophen und Wissenschaftlern des 20. Jahrhundert gar keine Rolle.
Warum das?
Darüber wurde einfach hinweggesehen, weil eben ganz andere Aspekte seiner Arbeit für interessant gehalten wurden – wie seine neuen Denkansätze zu Religion und Christentum.
Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus für Ihre eigene Arbeit?
Es ist schön, Wissenschaftler zusammenzubringen und eine Debatte anzustoßen. Zugleich wollten wir unseren Studierenden zeigen, dass jüdisches und christliches Denken nie einfach isoliert voneinander, sondern in wechselseitiger Wahrnehmung stattfindet.
Mit dem Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Frankfurter Goethe-Universität sprach Astrid Ludwig.