Amos Oz beschreibt seinen aktuellen Roman Judas (2014), in dem der Student Schmuel Asch eine geheim zu haltende und damit geheimnisvolle Anstellung als Gesprächspartner für einen alternden Herrn findet, als Bildungsroman. Anders als im klassischen Bildungsroman jedoch, bei dem sich die Entwicklung des Protagonisten über mehrere Jahre erstreckt, ist es bei Schmuel Asch ein Winter, in dem drei Generationen aufeinandertreffen und die zeitlose Geschichte von Judas neu erzählt wird.
Zur jüngsten Generation gehört Schmuel, der die Stelle aus finanzieller Not annimmt und in das Haus zieht, das ihn durch seine Einsamkeit verzaubert. Zur zweiten Generation ist Atalja zu rechnen, eine wunderschöne Frau in ihren Vierzigern, die Schmuel den Verlust der Stelle androht, sollte er sich verlieben.
Generation Gerschom, ihr Schwiegervater, verkörpert mit seiner Verbitterung die älteste Generation. Die Enge des Hauses macht gemeinsame Gespräche unumgänglich. Schmuel beschließt, seine akademische Arbeit über Judas fortzusetzen. Der Idealismus des jungen Studenten, der noch glaubt und hofft und deshalb nicht anders kann, als seine Gedanken sogleich zu verbalisieren, trifft auf die Misanthropie des mehr mit sich selbst als mit anderen diskutierenden Gerschom Wald, dem er Gesprächspartner sein soll. Und dann ist da noch Atalja, die nur das Nötigste zu sagen scheint und sonst Stille befiehlt.
In der Bühnenadaption von Clemens Bechtel, die vergangenen Mittwoch im Hessischen Staatstheater Wiesbaden Premiere feierte, spielen alle Darsteller mit solchem Nachdruck, dass man die Bühne fast vergisst, wie bei dem sich für seinen Husten entschuldigenden Maximilian Pulst in der Rolle des asthmatischen Schmuel. Gelungen ist die Darstellung der unruhigen Einsamkeit, bei der alle sprechen, ohne miteinander zu reden, weil die Aufführung den Monologen genug Platz gibt, unterbrochen zu werden.
Die Inszenierung verzichtet auf große Effekte – keine grellen Lichter, keine laute Musik – und bietet die angesichts der schreienden Thematik von Unabhängigkeitskrieg und Verrat notwendige Ruhe zum Denken. In Anlehnung an den unaufgeregten Stil des Romans, der, ohne leichtsinnig zu sein, von der Schwere der Unzugänglichkeit befreit, ist die Inszenierung zurückhaltend, ohne sich eines angestrengten Minimalismus zu bedienen.
Verräter Umso mehr liegt der Fokus auf den Stimmen der Schauspieler, deren klares und doch isoliertes Sprechen auf seinem Höhepunkt von Rainer Kühn (Wald) durchbrochen wird. Wie Schmuel will er die Figur des Judas retten, als die eines Freundes, der mehr noch als Jesus selbst an dessen Wunder glaubt und ihn deshalb ans Kreuz bringt. Als einen, dessen Fehler darin besteht, dass er Jesus’ Widerwillen, nach Jerusalem zu gehen, aus Glauben an ihn übergeht. Doch er weiß auch, dass das christliche Narrativ in Judas den Verräter sieht und in jedem Juden seither den Judas.
Er mahnt verzweifelt: »Wir alle sind Judas Ischariot, seit 80 Generationen, wir alle sind Judas Ischariot.« Die Worte sind mit dem Ernst des Leids gesprochen, wie eine Klage unablässig wiederholt – es ist nichts senil Selbstvergessenes in ihnen. Dass einige Zuschauer dennoch etwas Komisches daran finden, wie ihr Lachen verrät, liegt nicht an der Aufführung. Nur für diejenigen, für die es keinen modernen Antisemitismus gibt und die dessen strukturelle Nähe zum christlichen Antijudaismus deshalb auch nicht sehen, kann die Klage des Mannes zur Karikatur werden.
Nach diesem Bruch wandelt sich das Stück – Schmuel und Atalja sprechen miteinander, und auch Gerschom spricht, wenn er nicht gerade in seinem Stuhl eingeschlafen ist. Sie sprechen nicht nur, sie streiten, aber sie tun es doch miteinander. Über Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Friedens zwischen Juden und Arabern, über Träumer und Realisten, über die Freunde Jesus und Judas, jeder von ihnen mit seinem Teil Verzweiflung, mit seinem Teil Hoffnung.
Bruch Atalja Abrabanel ist die Tochter des Leiters der Jewish Agency, der als Einziger gegen die Staatsgründung gestimmt, für die Überwindung der Gegensätze zwischen Juden und Arabern gekämpft hatte und damit für Erstere zum Verräter geworden war. Gerade als der Ton, in dem die unnahbare und von Schmuel begehrte Atalja (Sólveig Arnarsdóttir) spricht, seine Bissigkeit zu verlieren scheint, kommt es zum zweiten Bruch. Sie schreit und wirft um sich mit Büchern, als wolle sie dem darin Geschriebenen und damit auch dem Schriftvolk Gewalt antun. Ihre Wut über das im Unabhängigkeitskrieg vergossene Blut ist persönlichen Ursprungs. In sich zusammengesunken erzählt sie, wie ihr Mann Micha, Gerschom Walds Sohn, auf sadistische Weise im Unabhängigkeitskrieg ermordet wurde.
Die Inszenierung stellt, wie schon der Roman, eine Sprechtherapie dar, in der sich individuelle und kollektive Geschichte verschränken, in der Geschichte die als Verräter Gezeichneten rehabilitiert. Nur weil das Sprechen so einschlägig ist, rückt das Bühnenbild in den Hintergrund. Es ist nicht kahl, aber außer den Büchern und dem Radio, aus dem zwischendurch eine traurige Melodie dudelt oder man die unverkennbare Stimme Ben Gurions hört, sagt es nicht viel. Das muss es auch nicht, weil so brillant gesprochen wird.
Wie jeder Student, der vor ihm in diesem Häuschen am Rande Jerusalems gearbeitet hat, schläft auch Schmuel mit Atalja; wie jede Sprechtherapie nimmt auch diese damit ihr Ende. Was bleibt, ist das Erinnerte, das Wieder- und Neuinszenierte, die Rehabilitation. Man darf hoffen, dass diese beim Zuschauer zur Erinnerungsspur wird.
Weitere Aufführungen: 9., 11. März, 5., 14. April im Hessischen Staatstheater Wiesbaden