»Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem.« Diese tröstende jiddische Weisheit hat mir kürzlich eine Freundin hinterlassen, deren Nachrichten akustische Schätze meiner Mailbox wurden. Regina ist ein deutsch-israelisches Gesamtkunstwerk, ein alt-junges Wunder.
Sie zitiert gern Goethe, Schiller und Heine, verschickt aber auch TikTok-Memes per WhatsApp. Artikel der »Jüdischen Allgemeinen« liest sie online gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Ruth, beide in Rollstühlen sitzend, am Strand von Tel Aviv. Hin und wieder singen sie gern im Duett »Am Brunnen vor dem Tore«, zur Not via Telefon.
Typische doppelte Verneinung im Jiddischen
Ginchen, wie wir alle sie nennen, spricht neben Hebräisch und Englisch ihre Muttersprache mit leichtem Berliner Dialekt (sie isst also Kürschkuchen am Tüsch) und verschickt als 94-Jährige Sprachnachrichten mit Ewigkeitswert: »Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem.« Die deutsche Übersetzung klingt trocken und banal: »Niemand kann alles haben.« Gerade die typische doppelte Verneinung im Jiddischen macht diese Erkenntnis charmant und zur Maxime eines Jahrhundertlebens.
»Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem.« Die deutsche Übersetzung klingt trocken und banal: »Niemand kann alles haben.«
Regina Steinitz wuchs im Berliner Scheunenviertel auf. Sie und ihre Schwester, Rudele genannt, galten in den 30er-Jahren als die bildhübschen »Püppchen aus der Auguststraße«– so auch der Titel einer rbb-Doku. Ein Onkel befreite sie kurz vor der Deportation aus den Fängen der Gestapo, sie tauchten unter, wanderten 1948 nach Israel aus, Regina und ihr Mann Zvi bauten den Kibbuz Netzer Sereni mit auf und gründeten eine Familie. Regina arbeitete als Krankenschwester (und pflegte, da höchst musikinteressiert, zeitweise die Cellistin Jacqueline du Pré). Ihrem Mann, der Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte, empfahl Regina in späten Jahren, als Erinnerungen ihn in Depressionen trieben, »Amcha«, die psychologische Betreuung für Opfer der Schoa.
Gemeinsam reisten die Schwestern oft nach Berlin, wo wir uns an einem denkwürdigen Nachmittag in ihrem Hotelzimmer kennenlernten. Statt eines Interviews mit den Zwillingen hockten wir zu dritt auf dem Bett und sangen aus voller Kehle jene Volkslieder, die beide seit der Jüdischen Mädchenschule auswendig kannten. »Ännchen von Tharau«, »Der Mai ist gekommen« und »Sah ein Knab ein Röslein stehn«. Ginchen gehört fortan zu unserem Leben. Wir besuchten sie bis zum Krieg oft in Ramat Gan, aßen am Strand, diskutierten das Leben im Allgemeinen und die Lage Israels im Besonderen.
»Es ist wie früher. Ich muss mich schnell verstecken vor den Bomben«
Ginchens Sprachnachrichten nach dem 7. Oktober 2023 sind Zeitzeugnisse. »Es ist wie früher. Ich muss mich schnell verstecken vor den Bomben, in Berlin jedoch war ich jung und konnte schnell laufen. Jetzt mit diesem Dings, das Räder hat, wie heißt das bei euch? Rollator? Damit brauchʼ ich ewig bis zum Bunker. Nu, ich hab’s damals überlebt, ich werde es jetzt überleben. Nur die armen jungen Menschen, die Kinder, die Geiseln, unsere Soldaten, sie tun mir so leid …«
Sie liebt das Leben, trotz der Kriege, der Verluste, der Bedrohungen und trotz des hohen Alters, das seine Tribute fordert. Für sie gilt »Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem«, eine Wahrheit, die Kurt Tucholsky in seinem »Ideal« von 1927 poetisch passend geprägt hat: »Etwas ist immer. Tröste dich. Jedes Glück hat einen kleinen Stich. Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Daß einer alles hat – das ist selten.«