Hanoch Rosenn taucht aus dem Grab der Pantomime auf. Er klopft sich den Staub aus den Kleidern, und sein Herz fängt wieder an zu schlagen. Eine Auferstehung auf dem »Friedhof der Nostalgie«. Zwischen den Gräbern der Ehrlichkeit und der D-Mark beginnt die Show des israelischen Pantomimen im Tipi am Kanzleramt. Mit »Speechless – Sprachlos« nimmt Rosenn den Zuschauer mit auf eine faszinierende Reise von der Schöpfungsgeschichte über die Zeit des Stummfilms bis in die flimmernde Welt der Moderne – am vergangenen Freitag war Premiere, Auftakt zum dreiwöchigen Gastspiel in Berlin.
Schöpfung In seiner Interpretation der Schöpfungsgeschichte lässt Rosenn idyllische Szenen aufblühen, die das beginnende Leben auf Erden zeigen. Erste Pflanzen, Vögel und Affen beleben die Leinwand. Im selben Atemzug bricht er bereits mit dem irdischen Paradies. In Sekundenschnelle vollzieht Rosenn nach der Evolution die technische Revolution. Gerade noch erschlug der erste Mensch ein Raubtier, holte sein Pfeil einen Vogel vom Himmel, da kracht ein Schuss, die Kettensäge kreischt. Sieg für den Menschen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine komische Übertreibung der Realität. Für Rosenn ist es eine persönliche Auseinandersetzung mit seinem kulturellen Erbe. »Macht euch die Erde untertan – Ist das damit gemeint?«
Immer wieder zitiert Rosenn, nimmt künstlerische Anleihen. So in seiner Bearbeitung der Zeit des Stummfilms. Er greift dieses Element auf, um die eigene Metamorphose der Pantomime zu inszenieren. Es ist eine Hommage an Charlie Chaplin. Rosenn scheint mit seinem Vorbild zu spielen, während er es sanft in die Moderne transformiert.
Kunst Mit der klassischen Pantomime, wie sie von Etienne de Creux und Marcel Marceau, den großen Meistern dieser Kunst, praktiziert wurde, hat »Speechless« allerdings nur noch wenig zu tun. »Die Kunst muss sich der Zeit anpassen«, erklärt Rosenn seine Reformation der Pantomime. Dabei kritisiert der Künstler immer wieder genau den Prozess, für den er selbst steht. Die blinkende Hightech-Hektik der modernen Welt. Trotz dieser Differenzen beherrscht Rosenn die Grundlagen seiner Kunst perfekt und gilt nicht umsonst als einer der größten Pantomimen unserer Zeit.
Seine aktuelle Show »Speechless« kreierte Rosenn 2009 für das israelische »Festival of Arts«. In die Inszenierung ließ er seine langjährigen Erfahrungen als Regisseur einfließen. In Israel gewann »Speechless« den »Preis für die beste Show« und wurde unter anderem in Costa Rica, Kolumbien, Peru, Chile, Kroatien und Frankreich gezeigt. Rosenn hat sich von manchen Albereien früherer Produktionen inzwischen frei gemacht, sein Auftritt wirkt trotz aller Perfektion leichtfüßig. »Speechless« ist nicht nur der Titel der Show, sondern auch ihr Ziel. »Ich will die Zuschauer sprachlos machen.«
Leben Mit vielen Metaphern beschreibt Rosenn das Leben in unserer Welt. Besonders drastisch erscheint das Bild des pharmaabhängigen Menschen, der für jede Lebenslage die entsprechende Pille parat hat.
Nach der Pause meldet sich der Künstler mit einer animierten Show am Flughafen zurück. Sehr eindrucksvoll ist die nächste Szene, in der Rosenn seinen Vater im Altenheim besucht. Im Hintergrund schwebt die Frage der Beatles: »Will you still need me, will you still feed me, when I’m 64?« Nie hat der Sohn Ruhe und Zeit für seinen alten Vater. Immer wieder ruft ihn sein eigenes Leben aus dem muffigen Zimmer des einsamen Mannes. Bis irgendwann nur noch Mantel, Stock und Hut seines Vaters auf dem leeren Sessel liegen. In einem Park erwachen die Erinnerungen an den Vater wieder zum Leben. In einer bewegenden Darbietung nähert sich Rosenn dem Verlust. An die Schulter seines Vaters gelehnt, weint der Sohn, denkt zurück und lässt sich trösten.
Doch das Leben geht weiter. Der »Highway of Life«, wie Rosenn den roten Faden seiner Show nennt, kennt keine Pausen. In einer der letzten Szenen rennt Rosenn, getrieben auf der Hauptstraße des Lebens. Verkehrsschilder weisen auf die Stationen hin. Die monotone Stimme eines Navigationssystems treibt ihn zur Eile und weist ihm den rechten Weg.
Nach einem gehetzten Leben erkennt der Mensch erst im Paradies, wie sein Schicksal hätte sein können. Glücklich tanzt Rosenn zwischen Seifenblasen und Schmetterlingen durch virtuelle 3D-Welten. In seiner gesamten Show spielt er mit der Realität. Ein Spiel zwischen den Dimensionen. Realität wird zur Projektion und Projektion zur Realität. Das Paradies als Fata Morgana – zum Greifen nah und doch nur Illusion.
Übrigens: Ganz zum Schluss überrascht der Pantomime noch einmal. Hanoch Rosenn verabschiedet das begeisterte Publikum mit den einzigen gesprochenen Worten seines Auftritts – und wünscht »einen guten Abend«.
Hanoch Rosenn: »Speechless«.
Berlin, Tipi am Kanzleramt, 10. Februar bis 4. März
www.tipi-am-kanzleramt.de