Noa Eshkol

Sprachfinderin

Noa Eshkol war 18 Jahre alt, als sie und ihre Freundin Masha – genannt »die Wilde« – sich freiwillig zum Dienst in der britischen Armee in Ägypten meldeten. Im März 1941 hatten die Deutschen unter Erwin Rommels Kommando Tripolis erreicht. Mit der britischen Armee in Ägypten in der Defensive mussten die Juden Palästinas mit dem Schlimmsten rechnen.

So verabschiedete sich Noa von ihrem bisherigen Leben, das sich um Freunde, Kafka, Kino und Konzerte gedreht hatte. Fortan wollte sie im Dienst Seiner Majestät Armee-Trucks durch die ägyptische Wüste fahren und so ihren Teil zum Kampf gegen Hitler beitragen. Und damit sich ihre Freunde in Tel Aviv nur ja nicht einbildeten, dass sie und Masha Angst hätten, schworen die beiden Mädchen, dass sie mit jedem Offizier des British Empire schlafen würden. Noa war schon damals mutig und selbstbewusst. Und sie pfiff auf die Konventionen im links-puritanischen Tel Aviv.

Geboren wurde sie 1924 im Kibbuz Degania Bet

Jahrzehnte später, als sich eine Journalistin traute, die berühmte Künstlerin um Auskunft zu ihrer Person zu bitten, antworte ihr Noa: »Ich bin eine der Arbeiterinnen der zweiten Alija.« Ihr Vater Levi Eshkol und ihre Mutter Rivka waren kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit der zweiten jüdischen Einwanderungswelle nach Palästina gekommen und hatten 1920 am Ufer des Kinneret den Kibbuz Degania Bet gegründet. Dort wurde Noa am 28. Februar 1924 geboren. Auch wenn sich die Eltern kurz darauf trennten und die Tochter von ihrer Mutter in New York und Tel Aviv allein aufgezogen wurde, blieb Noa Eshkol dem Kibbuz und seinen Idealen immer verbunden. Ganz im Geist der jüdischen Pioniere war ihr jedes Aufsehen um die eigene Person verhasst. Sie machte einfach ihre Arbeit. Und nur diese sollte von Interesse sein, nicht ihre Person.

Ihr Vater war Israels Premierminister Levy Eshkol – ihr Mitstreiter Moshé Feldenkrais.

Dass Noa schon als Schülerin Jungs und Mädchen für sich begeisterte und Lehrer mit ihrer Brillanz einschüchterte – wen sollte das bitte schön interessieren? Dass ihr geliebter Vater 1963 Israels dritter Premierminister wurde, hat Noa mehr besorgt als beeindruckt: »Für was soll mein Vater denn Premierminister werden? Um irgendwelchen Botschaftern die Hände zu schütteln? Jetzt werde ich auf ihn aufpassen müssen, damit er nichts anstellt!« Levi Eshkol stellte tatsächlich etwas an: Im Juni 1967 steuerte er das in seiner Existenz bedrohte Israel sicher durch den Sechstagekrieg.

1943 wurde Noa aus dem Militärdienst entlassen. Tatsächlich wird erzählt, dass die britische Armeeführung nicht allzu traurig darüber war, künftig auf die Dienste der jungen Rebellin verzichten zu müssen.

Noch im selben Jahr wurde Noa Schülerin in Tehilla Resslers Tel Aviver »Studio für Tanz und Gymnastik«.»Als ich mit dem Tanz begann«, erzählte Noa, »wollte ich einfach wissen, was ich tue.« Sie suchte »das Äquivalent zur Musik, zum Gesang, zur Sprache«, wollte wissen, wie man Bewegung schreibt. Doch weder die Bewegungsnotation von Rudolf von Laban – bei dem sie in Manchester studierte – noch ein Studienaufenthalt bei dessen Schüler Sigurd Leeder in London konnten ihre Fragen zur Verschriftlichung menschlicher Bewegung beantworten.

Noch vor Ende des Unabhängigkeitskriegs kehrte Noa nach Tel Aviv zurück, wo sie fortan unterrichtete. Mit einem ihrer Studenten, Avraham Wachman, machte sie sich Anfang der 50er-Jahre daran, eine eigene Bewegungsnotation zu entwickeln, die es erlauben sollte, Bewegungen auf dem Papier zu »komponieren«. »Ich habe das für mich gemacht«, erklärte Eshkol Jahrzehnte später. »Um die Welt zu verstehen. Das ist die Verbindung zu mir und auch zur Welt.«

Nach Überzeugung ihres Freundes und Mitstreiters Moshé Feldenkrais (Autor des Buches Bewußtheit durch Bewegung) ist die von Noa Eshkol und Wachman entwickelte Notation nicht nur die einfachste, sondern zugleich die genaueste Verschriftlichung der menschlichen Bewegung. Bis zum Ende ihres Lebens hat Noa Eshkol an ihrer Methode gearbeitet, zahllose existierende Bewegungsabläufe dokumentiert und neue verfasst.

1972 wurde sie Professorin an der Universität Tel Aviv

Als sie – in Zusammenarbeit mit dem weltberühmten Bewegungslehrer Feldenkrais – in den 70er-Jahren am Seminar der Kibbuzim Kurse für angehende Lehrerinnen anbot, kündigte sie diese ausdrücklich als »künstlerisch-wissenschaftliche« Kurse an. 1972 wurde die Wissenschaftlerin Noa Eshkol Professorin an der Universität von Tel Aviv. Damit avancierte ihr Haus in Cholon, wo sie sechs Tage die Woche mit der »Noa Eshkolʼs Chamber Dance Group« arbeitete, zur inoffiziellen – und unbezahlten! – Forschungsstelle der Universität.

Der vor wenigen Wochen verstorbene amerikanische Tänzer Steve Paxton wurde zum ersten Mal 1970 Zeuge einer Aufführung Noa Eshkols. Im Rückblick war er überzeugt davon, dass dieses »extrem seltene Erlebnis« sein Gehirn »reorganisiert« hatte.

Noas Freund, Schüler und späterer Mitarbeiter, der Bewegungslehrer und Tänzer Amos Hetz, hat seine ersten Eindrücke von Eshkols Arbeit so beschrieben: »Ich hatte das Gefühl, dass ich Musik sehe.« Viele der Bewegungen waren, so Hetz, »sehr unvorhersehbar und erinnerten an Vögel und alle möglichen anderen Dinge aus der Natur«. Für Hetz bedeutet Bewegung »die totale Erfahrung«, ist doch nie deutlich, wo »der Körper aufhört und der Geist beginnt«. Insofern ist Bewegungsnotation eben immer auch Notation des Geistes.

»Ich hatte das Gefühl, dass ich Musik sehe«, sagt einer ihrer Schüler über die Notationen.

Im Zentrum der Ausstellung im Berliner Georg Kolbe Museum »No Time to Dance« steht nicht Noa Eshkols eigentliche Lebensleistung – die Entwicklung und Anwendung der Eshkol-Wachman-Notation –, sondern die von ihr gestalteten Wandteppiche. Begonnen hatte Eshkol mit dieser Arbeit (auch für sie selbst völlig überraschend) nach Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs 1973, als sie ihre Bewegungserforschung aufgrund des arabischen Angriffskriegs für eine Zeit lang einstellen musste.

Im Laufe der Jahre entstanden um die 1500 Teppiche. »Das mache ich nur, weil ich Lust dazu habe«, erklärte sie einer Journalistin, »darüber muss ich nicht einmal mir selbst gegenüber Rechenschaft ablegen.« Tatsächlich wurde eine Reihe dieser Teppiche noch zu Noa Eshkols Lebzeiten in Israel ausgestellt. Dort fanden sie wohl in erster Linie deswegen Beachtung, weil sie von der legendären Künstlerin und Bewegungsforscherin geschaffen waren.

Die schon optisch dominierenden Wandteppiche außerhalb Israels in den Fokus einer Noa-Eshkol-Ausstellung zu rücken und deren Lebenswerk »nebenbei« abzuhandeln, wird Leben und Arbeit der forschenden Künstlerin nicht gerecht.

Konventionelle Videoinstallationen von Yael Bartana und Omer Krieger

Auch die sehr konventionellen Videoinstallationen von Yael Bartana und Omer Krieger tragen keinesfalls dazu dabei, den Besuchern einen wahrhaftigen Eindruck von Noa Eshkols revolutionärer Arbeit und Methode zu vermitteln – ganz im Gegenteil. Dass sich ein Besuch der Ausstellung trotzdem unbedingt lohnt, spricht für Noa Eshkol.

Die Tänzerin, Künstlerin und Wissenschaftlerin starb am 14. Oktober 2007 in ihrem Haus in Cholon. Bestattet wurde sie im Kibbutz Degania Bet in der Nähe ihrer Mutter. Noa Eshkols Arbeit wird von ihren Schülerinnen und Schülern fortgeführt.

Die Ausstellung »No Time To Dance« ist noch bis zum 25. August zu sehen.

Meinung

Nan Goldin: Gebrüll statt Kunst

Nach dem Eklat in der Neuen Nationalgalerie sollte Direktor Klaus Biesenbach zurücktreten

von Ayala Goldmann  25.11.2024

Hochschule

Das Jüdische Studienwerk ELES feiert sein 15. Jubiläum

Als Begabtenförderungswerk will es junge jüdische Studenten auch weiter für das Gespräch stärken - gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten

von Stefan Meetschen  25.11.2024

Rezension

Trotzki-Biograf und Essayist

Isaac Deutschers Band »Der nichtjüdische Jude« zeigt Stärken und Schwächen des eigensinnigen Historikers

von Marko Martin  25.11.2024

Sehen!

Fluxus in Köln

Das Museum Ludwig widmet Ursula Burghardt und Ben Patterson eine Doppelausstellung

von Katharina Cichosch  24.11.2024

Amos Oz

Der Fehlbare

Biograf Robert Alter würdigt den Literaten und politischen Aktivisten

von Till Schmidt  24.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Schweißausbrüche, Panikattacken und eine Verjüngungskur auf dem Podium

von Margalit Edelstein  24.11.2024

Kulturkolumne »Shkoyach!«

Wenn Fiktion glücklich macht

Shira Haas und Yousef Sweid sind in »Night Therapy« weitaus mehr als ein Revival der Netflix-Erfolgsserie »Unorthodox«

von Laura Cazés  24.11.2024

Aufgegabelt

Boker tow: Frühstück

Rezepte und Leckeres

 24.11.2024

Auszeichnung

Historiker Michael Wolffsohn erhält Jugendliteraturpreis

Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur würdigt Engagement in der Geschichtsvermittlung

 23.11.2024