Mirjam Pressler, eine der bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen in Deutschland, war eine Arbeiterin, eine getriebene Schreiberin. Fragen beantwortete sie ebenso nüchtern wie kurz. Denn eigentlich hatte sie Besseres zu tun, hätte zu Hause sitzen können im bayerischen Landshut, wo sie seit 2007 lebte, um das nächste Buch zu Ende zu bringen.
Recherche Doch Mirjam Pressler wurde nie fertig, weil sie nie fertig werden wollte. Dabei ging es nicht nur ums Schreiben. Sie recherchierte, begab sich in Bibliotheken, stieg auf Dachböden, las sich durch Korrespondenzen, führte lange Gespräche mit Menschen, die ihr ihre Geschichten anvertrauten.
Mehr als 30 Kinderbücher –
und 300 Übersetzungen –
veröffentlichte sie
im Laufe ihres Lebens.
Von außen betrachtet konnte es wirken, als hätte sie sich an irgendetwas abzuarbeiten. Was sie schuf, wie sie es schuf, hatte mit ihr zu tun, auch mit den Härten des Lebens, die sie schon als Kind hatte kennenlernen müssen. »Ich finde es spannend, wenn Menschen es hinkriegen, aus Scherben und Trümmern wieder etwas aufzubauen«, hatte sie einmal in einem Interview gesagt – und gewusst, wovon sie sprach.
Verständigung Mirjam Pressler war eine uneitle Frau, und diese Uneitelkeit nahm zu, je mehr Preise sie entgegennehmen durfte. Das waren am Ende unüberschaubar viele, manche davon – wie zum Beispiel den Deutschen Jugendliteraturpreis – bekam sie mehrfach. 2013 hatte sie die Buber-Rosenzweig-Medaille erhalten, im Dezember des vergangenen Jahres das Bundesverdienstkreuz. In der Laudatio dazu hieß es: »Mirjam Pressler hat sich mit ihrem Schaffen in herausragender Weise für die Völkerverständigung insbesondere zwischen Israel und Deutschland sowie die Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht eingesetzt.«
Weil Geld ins Haus musste,
versuchte die damalige Verkäuferin
sich im Schreiben.
Mirjam Pressler ist immer sehr direkt gewesen, schnörkellos, unkompliziert, auch wenn es um einen Interviewtermin ging. »Um soundso viel Uhr, dort und dort, am besten bei mir zu Hause, vom Bahnhof abholen, kein Problem ...«, hieß es dann.
Blatt Früher gehörten Zigaretten und volle Aschenbecher zu ihrer Arbeit. Bücher, Schachteln, Zettel, Papierstapel, Fotos bedeckten Tisch und Bett. Auch schlafen schien also zeitraubend. Ihr Tag hatte »an die 18 Arbeitsstunden«, sagte sie. Wenn man sich in Meinungen traf, gab es ein feines Lächeln, bei Fragen zu ihrer Kindheit Zurückhaltung. Wie überhaupt Privates unerheblich schien, bis sich Worte dafür finden ließen, die Blatt für Blatt füllten.
Umso besonderer war der Augenblick in Berlin 2014, als die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden zu einem Treffen zum Thema »Jüdisches Kinder- und Jugendbuch« geladen hatte. Mirjam Pressler strahlte auf einmal während eines kleinen Pausengesprächs und erzählte von ihrem Enkel in Israel. Zuvor musste man sich ihr aber bitte noch einmal vorstellen, »ja, wir kennen uns sicher ..., aber ...« Mirjam Pressler war, was man gesichtsblind nennt.
Sie war eine getriebene Autorin,
eine Arbeiterin. Fragen beantwortete
sie ebenso nüchtern wie kurz.
Mirjam Pressler ist Teil der bundesdeutschen Literaturgeschichte. In den 80er-Jahren in der Kinder- und Jugendliteratur als Schriftstellerin groß geworden, hat sie gezeigt, dass sich Kinder- und Jugendbücher machen lassen, die einer engagierten Öffentlichkeit zuzurechnen sind. Eine Hanni-und-Nanni-Idylle sucht man darin vergebens. Dafür gibt es viel reale Welt und immer ein Stück Hoffnung. 1980 debütierte Mirjam Pressler mit Bitterschokolade, es folgten Kratzer im Lack (1981), dann Novemberkatzen (1982). Kinder des Bildungsbürgertums erfuhren aus ihren Büchern von Kindern, denen es dreckig ging. Mirjam Presslers Bücher waren immer auch ein sozialer Beitrag.
biografie Geboren wurde Mirjam Pressler 1940 in Darmstadt. Sie wuchs bei Pflegeeltern und im Heim auf (ihr wunderbares Buch Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen von 1994 erzählt davon), sie erfuhr, dass sie das uneheliche Kind einer jüdischen Mutter war. In den 60er-Jahren ging sie nach Israel, lebte in einem Kibbuz, kehrte zurück nach Deutschland, heiratete einen Israeli, bekam drei Töchter, ließ sich scheiden, zog die Kinder alleine groß.
Weil Geld ins Haus musste, das Gehalt der kunst- und sprachenstudierten Jeansverkäuferin nicht ausreichte, versuchte sie sich im Schreiben, von dem sie allerdings schon längst wusste, dass ihr das irgendwie lag: »Im Kinderheim habe ich mir mit Geschichtchen Fressalien erschrieben.« Seit Ende der 90er-Jahre widmete sich Mirjam Pressler zuverlässig jüdischen Themen zur Freude aller Lehrer und Lehrerinnen jüdischer Schulen. Denn in Shylocks Tochter (1999), Malka Mai (2001), Zeit der schlafenden Hunde (2003), Golem, stiller Bruder (2007), Nathan und seine Kinder (2009), Ein Buch für Hanna (2011) war – erklärendes Glossar hin oder her – das Judentum zu Hause.
Als jüdische Autorin wollte
Pressler sich nie
bezeichnet wissen.
Begonnen hatte das wohl 1991 mit Mirjam Presslers Großunternehmen einer »Kritischen Ausgabe« des Tagebuchs der Anne Frank. »Anne Frank war für mich in jeder Hinsicht ein extrem wichtiges Thema, für mich als Autorin, aber auch für mich als Person«, sagte sie. Als jüdische Autorin wollte Pressler sich nie bezeichnet wissen. Vielmehr sah sie es als einen Vorteil an, »irgendwie ohne Wurzeln« zu sein, »ich kann mich da leichter in andere Menschen hineinfühlen«.
Hebräisch Und dann gibt es natürlich noch die großartige Übersetzerin Mirjam Pressler, die Bücher aus dem Englischen, dem Niederländischen übertrug – und immer wieder aus dem Hebräischen. Abraham Teuter hatte sie in den 80er-Jahren gebeten, für seinen Alibaba-Verlag Kinder- und Jugendbücher aus Israel ins Deutsche zu bringen. Mirjam Pressler »fand das wichtig« und lernte Hebräisch, um später festzustellen. »Ich liebe diese Sprache, und sie gehört zu mir.«
In ihren Jugendbüchern
gibt es viel reale Welt –
und immer ein Stück Hoffnung.
Aber auch die »Großen« der israelischen Erwachsenenliteratur – Aharon Appelfeld, Zeruya Shalev, Lizzie Doron, Batya Gur – brachte sie ins Deutsche, verhalf deren Texten zu eigenem Glanz. 2015 erhielt sie den Preis der Leipziger Buchmesse für die Übertragung von Amos Oz’ Judas. Wie sie bei Übersetzungen vorgehe, wurde sie einmal gefragt. »Ich lese das Buch nie vorher ganz durch, sondern erobere es von Anfang an übersetzend Satz für Satz, damit es für mich spannend bleibt«, lautete ihre Antwort.
Ihr letzter Roman Dunkles Gold wird im kommenden März erscheinen. In ihm habe sie, wie ihr Verlag Beltz & Gelberg wissen lässt, einen Bogen geschlagen »von den mittelalterlichen Pestpogromen zu aktuellen antisemitischen Entwicklungen in Deutschland«.
Am Mittwoch vergangener Woche ist Mirjam Pressler im Alter von 78 Jahren in Landshut gestorben. Ihre Stimme wird fehlen.