»A shprakh iz a dialekt mit an armey un flot« (»eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte«): Das jiddische Zitat des Linguisten Max Weinreich (1894–1969), Gründer des legendären YIVO-Instituts zur Erforschung der Kulturgeschichte des osteuropäischen Judentums in Wilna, zog sich wie ein roter Faden durch eine zweitägige Tagung unter dem Titel »Wie deutsch ist Jiddisch?« in Berlin. Weinreichs humorvolle »Definition« des Sprachbegriffs stammt aus einem seiner Artikel aus dem Jahr 1944; der Sprachwissenschaftler hatte es selbst im Rahmen einer Vorlesung gehört und gerne weitergegeben.
Dass Jiddisch kein Dialekt, sondern eine Sprache ist, bezweifelten allerdings weder Weinreich noch die »Flotte« von hochkarätigen Germanisten und Jiddisten sowie Politikern, die Volker Beck vom Tikvah-Institut zu der Tagung am vergangenen Sonntag und Montag gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung versammelt hatte. Und inwiefern Sprache auch ein Mittel sein kann, um politische Ziele zu erreichen, machte Beck gleich in seiner Einführung deutlich: Er legte dar, warum Jiddisch – anders als bisher von der deutschen Rechtsprechung beurteilt – zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehöre – ein Begriff, der in Entschädigungs- und Einbürgerungsfragen schon immer eine Rolle gespielt hat und jetzt in Rentenfragen relevant werden könnte.
ABSTAMMUNG Doch zunächst ging es um die Ursprünge einer Sprache, die viele bis heute fasziniert. Wie ist Jiddisch entstanden? Uriel Weinreich, der Sohn von Max Weinreich, schrieb in seinem weltbekannten Lehrbuch College Yiddish: »Die Annahme, dass Jiddisch vom Deutschen abstammt, ist genauso unzutreffend wie die häufig gehörte Feststellung, dass der Mensch vom Affen abstammt. In Wirklichkeit haben modernes Jiddisch und modernes Deutsch einen gemeinsamen Vorfahren in den Dialekten des mittelalterlichen Deutschlands.«
Der Jurist Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, fasste in seinem Grußwort zur Tagung zusammen: »Auch wenn die Ursprünge des Jiddischen noch in vielerlei Hinsicht im Dunkeln liegen, und auch wenn die Entstehung noch nicht im Einzelnen rekonstruiert worden ist, ist sich die Sprachwissenschaft doch einig, dass es sich im Frühmittelalter im oberdeutschen Raum entwickelte. Es wurde von den dort lebenden aschkenasischen Juden gesprochen, die sich in dieser Zeit als Kaufleute und Handwerker an den großen Handelsstraßen am Rhein niedergelassen hatten.«
Neben dem Mittelhochdeutschen und Hebräisch-Aramäischen seien auch romanische Elemente ins Jiddische eingeflossen, als sich Juden aus Italien und Frankreich in Deutschland niederließen. Schon früh grassierte der christliche Antijudaismus, erinnerte Klein: »Mit den Kreuzzügen des 11. und 12. Jahrhunderts begannen die ersten Massenpogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Europa. (…) Deswegen begannen Juden schon im 11. Jahrhundert, aus dem deutschen Sprachgebiet nach Osteuropa einzuwandern.«
OSTJIDDISCH In Osteuropa wurde Jiddisch mit slawischen Elementen angereichert: »So entstand das Ostjiddische, das von unzähligen Menschen zwischen Warschau und Kiew, Riga und Odessa gesprochen wurde.« In diesem Sprachraum erlebte Jiddisch eine außerordentliche kulturelle Blüte.
In Deutschland wiederum glich sich das dort gesprochene Jiddisch dem Deutschen an. Dieses Westjiddisch, erklärte die Linguistin Lea Schäfer von der Universität Düsseldorf, wurde aufgrund der Assimilation im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts aufgegeben – außer in einem Gebiet in Elsass-Lothringen.
Während der Schoa wurden Millionen von Juden, die Jiddisch sprachen, ermordet – doch die Sprache hat überlebt. Und auch wenn die aus Boston zugeschaltete israelische Historikern Rachel Rojanski bei der Tagung nicht von einem »Revival« in Israel sprechen wollte und betonte, selbst bei Charedim werde zunehmend weniger Jiddisch gesprochen (und das nicht aus Interesse an der jiddischen Kultur, sondern als Abgrenzungsbestrebung gegenüber dem Staat Israel): Das erneute Interesse an Jiddisch gerade bei jungen Menschen sei bemerkenswert und nicht rein akademisch.
Israel machte nach der Staatsgründung 1948 das Jiddische nicht zur Amtssprache – das ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist, wie Rojanski, Autorin des Buchs Yiddish in Israel, darlegte, dass der jüdische Staat die Entwicklung des Jiddischen auch unter Ministerpräsident David Ben Gurion durchaus förderte.
»Der Emes«, die jiddische Version der Prawda, wurde 1939 in der UdSSR liquidiert.
Etwa sei Mordechai Zanin, der »Vater der jiddischen Presse« in Israel und Gründer der jiddischsprachigen Zeitung »Letste Nayes« (Neueste Nachrichten), keinesfalls in seiner Arbeit behindert worden. Zanin, dessen Zeitung ums wirtschaftliche Überleben kämpfen musste, habe behauptet, die Schwierigkeiten des Blattes lägen an Diskriminierung durch die Regierung.
ZEITUNGEN »Die Realität war komplexer«, so Rojanski. Obwohl die politische Linie der zeitweise montags, mittwochs und donnerstags erscheinenden »Letste Nayes« konträr zur linksgerichteten Mapai-Partei lagen – denn die Zeitung vertrat vor allem die Interessen von Schoa-Überlebenden aus Osteuropa –, duldete die Regierung, dass Zanin in den 50er-Jahren eine weitere Zeitung gründete, die sonntags, dienstags und freitags erschien und faktisch eine Umgehung der Lizenzvorschriften für Tageszeitungen bedeutete. Denn »Yidishe Zaytung« und »Letste Nayes« waren ein und dasselbe Blatt.
Gefahr habe Zanin nicht von der Regierung in Jerusalem gedroht, sondern von den Chefredakteuren der hebräischsprachigen Zeitungen, die vergeblich Sanktionen gegen die Konkurrenz der jiddischsprachigen Presse verlangten. Das Ende vom Lied: Die Mapai-Partei kaufte »Letste Nayes« – und Zanin blieb auf seinem Posten.
Eine weitaus tragischere Geschichte schilderte die Übersetzerin und Lingustin Daria Vakhrushova, die an der Universität Düsseldorf über »Jiddisch-sowjetische Literatur: Zwischen Modernismus und proletarischer Kunst« promoviert. Zugeschaltet aus Moskau, berichtete sie dem Publikum über die Haltung der Sowjetunion, die Jiddisch seinerzeit als einziges Land de facto und de jure förderte.
Doch musste die Sprache dem politischen System dienen – wie Vakhrushova exemplarisch für die Zeitung »Der Emes«, der jiddischsprachigen Variante des Parteiorgans »Prawda«, und parallel anhand der Biografie des jüdischen Linguisten Eli Falkovich beschrieb. Zunächst gefördert, wurde »Der Emes« 1939 im Zuge der neuen Kampagne gegen die jiddische Kultur liquidiert. Falkovich verlor seine Arbeit an der Universität in Moskau und lebte in ständiger Furcht vor Verfolgung.
Wegen herausragender Verdienste im Kampf gegen die Deutschen wurde er im Zweiten Weltkrieg mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet. Das rettete ihn womöglich vor den politischen Säuberungen im eigenen Land. Erst Ende der 50er-Jahre hielt er wieder Vorträge – allerdings auf Russisch. Und erst 1961 publizierte er wieder auf Jiddisch in der neu gegründeten Zeitung »Sovetish heymland«. Seine eigenen Kinder sprachen kein Jiddisch mehr.
KONTINGENTFLÜCHTLINGE Viele Juden, die als Kontingentflüchtlinge aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, haben trotz Verfolgung sgeschichte zumindest noch rudimentäre Kenntnisse der »Mame-loshn«, wie Jiddisch häufig genannt wird. Könnte Jiddisch in Deutschland also als Minderheitensprache anerkannt werden?
Die Voraussetzungen für eine Aufwertung der jiddischen Sprache könnten erfüllt sein.
Gösta Nissen, Leiter des Minderheitensekretariats der vier autochthonen nationalen Minderheiten und Volksgruppen Deutschlands, sagte bei der politischen Abschlussdiskussion der Tagung, die Voraussetzungen dafür könnten erfüllt sein. »Das ist einmal der Minderheitenstatus der Sprecher, das ist (…) die Staatsangehörigkeit der Sprecher.«
Zudem müsse die Sprache herkömmlich gesprochen werden. Auch eine ausreichende Zahl der Sprecher spiele eine Rolle, erklärte Nissen: »Ich kann mir vorstellen, dass juristisch nichts dagegenspricht.« Dies sei allerdings seine Privatmeinung, unterstrich er. Bislang schützt Deutschland nur Dänisch, Sorbisch, Friesisch, Romanes und Niederdeutsch auf Grundlage der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen.
Bei der Debatte wurde der Status des Jiddischen nicht als Selbstzweck erörtert; im Zentrum stand ein Altern in Würde für viele Juden in Deutschland. Politiker von FDP, Grünen, SPD, CDU und Linke äußerten sich zuversichtlich, dass eine bessere Alterssicherung doch noch gelingen kann. Dies sei auch Thema bei den laufenden Gesprächen über eine Ampelkoalition. Die Schlechterstellung von Kontingentflüchtlingen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion im Vergleich zu sogenannten Spätaussiedlern müsse beendet werden.
DISKRIMINIERUNG Der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Müller-Rosentritt sagte, es gehe nicht in erster Linie darum, das Jiddische zu stärken, sondern um »eine Aufhebung von massiven Diskriminierungen«. Marlene Schönberger, Bundestagsabgeordnete der Grünen, schloss sich an: »Wenn die Anerkennung des Jiddischen als ein Teil des deutschen Sprach- und Kulturraums ein Weg ist, das zu lösen, muss der gegangen werden.« Auch Michaela Engelmeier, ehemalige Bundestagsabgeordnete der SPD, erklärte, die ihrer Meinung nach rechtswidrige Ungleichbehandlung müsse korrigiert werden.
Peter Harry Carstensen (CDU), ehemaliger Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wurde deutlicher: »Wenn es darum geht, die soziale Situation der jüdischen Gemeinden und Gemeindemitglieder, die aus dem Osten gekommen sind und denen es nicht sehr gut geht, zu ändern, bin ich zu jeder Schandtat bereit.« Wenn es aber darum gehe, dass sich Jiddisch bei Juden wieder als gesprochene Sprache verbreite, sei er weniger optimistisch.
Zufrieden mit den Ergebnissen der Tagung zeigte sich Volker Beck. Er habe die Hoffnung, dass sich in den kommenden Wochen politisch etwas bewegen werde. Er unterstrich aber: »Wenn wir etwas für die Erhaltung des Jiddischen tun können, ist das gut. Was die Jüdinnen und Juden dann für eine Sprache sprechen wollen, das überlassen wir ihnen.«