Wenn der deutsche Medienbetrieb die »Gewaltspirale« entdeckt und »Radikale auf beiden Seiten« ausmacht, während »unverhältnismäßige Reaktionen« nur einer Seite attestiert werden, ist mal wieder akut Nahostkonflikt. Dem Terror auf Israels Straßen versuchen deutsche Journalisten dann – bewusst oder unbewusst – mit besonders um die Ecke gedachten Formulierungen gerecht zu werden: »Palästinenser sterben bei Messerattacken auf Israelis«, hieß es am Wochenende zum Beispiel bei »Spiegel Online« in einer Überschrift.
Die Zeile schafft es so, die logische Fortsetzung der berühmten »Focus Online«-Überschrift »Israel droht mit Selbstverteidigung« zu werden. Im »Spiegel«-Text ging es um die Attentate von zwei jungen Palästinensern, die ums Leben kamen, während sie danach trachteten, Israelis mit Messern zu ermorden. So wurden bis Redaktionsschluss dieses Textes mittlerweile acht Israelis getötet, zahlreiche weitere Bürger des jüdischen Staates seit Ausbruch der mit Haushaltsutensilien inszenierten Terrorwelle verletzt – oftmals schwer.
gleichgültig Wer sich bei »Zeit Online« informierte, wusste hinterher jedoch nicht, wessen Idee diese Terrorserie eigentlich war: »Messer, Schraubenzieher, Gemüseschäler: Mit den einfachsten Mitteln gehen Palästinenser und Israelis seit Tagen aufeinander los, nicht selten enden die Angriffe tödlich.« So steigen die Kollegen in einen Bericht zum Thema ein und klingen dabei, als würden sie sich mit einer Schulhofrauferei befassen, die nur etwas arg aus den Fugen geraten ist. »Mir egal, wer angefangen hat«, sagen Pädagogen meist nach solchen Prügeleien. Journalisten sollte das aber vielleicht nicht gleichgültig sein.
Warum also wählt »Zeit Online« eine Formulierung, die alle Grenzen zwischen Verteidigern und Angreifern auflöst? Auf Anfrage antwortet Markus Horeld, stellvertretender Chefredakteur des Online-Auftritts: »Ich kann in dem von Ihnen erwähnten Text keine Auflösung ›aller Grenzen‹ erkennen.« Denn im Verlauf des Berichts, so schreibt er weiter, würden die Angriffe von Palästinensern auf Juden ebenso wie der Angriff eines Juden auf Araber konkret beschrieben. »Täter und Opfer werden durchweg klar benannt.«
Und »Spiegel Online«? Die Kollegen von der Ericusspitze aus Hamburg berichten über die Anschläge der Palästinenser, als handele es sich um die x-te Neuauflage einer gewaltsamen Dauerfehde zwischen unterprivilegierten Vorstadtkindern und den Bewohnern besserer Gegenden. »Gut ausgebildete Soldaten und Polizeikräfte gegen Teenager mit Küchenmessern und selbst gebauten Brandsätzen – es ist eine Spirale der Gewalt mit ungleich verteilten Mitteln.«
verdrängung Dass die Redaktion israelische Armee und Polizei zuerst nennt und damit beim Leser suggeriert, sie seien der Aggressor, mag noch unbewusst passiert sein. Aber wie schaffen es die Redakteure beim »Spiegel«, alle auch vom eigenen Haus intensiv begleiteten Debatten zum finalen Rettungsschuss zu verdrängen? Und was ist mit der Pflicht eines Staates, seine Bürger vor Gefahren zu schützen?
Es sind Fragen, die »Spiegel Online« nicht beantwortet. Weder Online-Chefredakteur Florian Harms noch Politik-Chef Roland Nelles noch eine Sprecherin des Verlags wollten sich dazu äußern.
Eine Antwort bleibt auch auf die Frage aus, wie die folgenden Zeilen auf die Seite geraten konnten: »Er (Anm. d. Red: Mahmud Abbas) sprach sich für einen friedlichen Widerstand aus, bekundete gleichzeitig aber seine Unterstützung für die Demonstranten, die in den vergangenen Tagen mit der israelischen Polizei in Konflikt gekommen seien.« Ein Hinweis darauf, dass Palästinenserführer Abbas bereits zuvor deutlich gemacht hatte, wie er wirklich denkt, fehlte indes. »Wir preisen jeden Tropfen Blut, der für Israel geflossen ist«, sagte der bei vielen deutschen Medien als gemäßigt geltende Chef der palästinensischen Autonomiebehörde. Den Juden warf er vor, »mit ihren dreckigen Füßen« die Al-Aksa-Moschee schänden zu wollen.
erklärung Wollte man, ohne ein einschlägiges Ressentiment als Erklärung heranzuziehen, den Versuch wagen, die Perspektive deutscher Redaktionen auf den Nahostkonflikt nachzuvollziehen, hilft womöglich eine Fußballanalogie: Nahostkonflikt ist wie die ersten Runden im DFB-Pokal, wo Amateurklubs gegen bestens ausgerüstete und trainierte Bundesligateams antreten. Das Narrativ ist klar: Die Sympathien gelten den Außenseitern, die sich mit Kampf und einfachsten Mitteln gegen die Profis wehren. Wenn so ein Spiel allerdings entgleitet, kann es hässlich werden, und beide treten sich vom Feld.
So kann man – vielleicht – erklären, warum der »Bayerische Rundfunk« auf seiner Website über eine Videoserie der Attentate schrieb: »Die folgenden, teils schwer erträglichen Videos dokumentieren Gewaltexzesse beider Seiten.« Damit konfrontiert, antwortet ein Sprecher des Senders, dass die Zeile nicht vom Korrespondenten aus Israel stamme, »sondern von einem Redakteur nachträglich eingefügt wurde – mit dem Ziel, vor dem drastischen Inhalt der Videos zu ›warnen‹«. Immerhin: »›Gewaltexzesse BEIDER Seiten‹ gibt den Sachverhalt in der Tat nicht richtig wieder«, heißt es weiter. Der BR hat die betreffende Passage schließlich gestrichen.
Das alles funktioniert als Erklärung aber nur, wenn man kein Ressentiment als Ursache der verzerrenden Berichterstattung in Erwägung zieht. Genauso versucht es schließlich der Korrespondent des »Bayerischen Rundfunks«, Christian Wagner, der Antisemitismus in einem Beitrag für die »Tagesschau« als Ursache der Gewalt ausschließt. Stattdessen hält er der israelischen Regierung vor, sich nicht für die Motive der Attentäter zu interessieren: »Bei Terror steht in Israel fest: Es ist Hass auf Juden«, formuliert Wagner.
Da ist es nur logisch, welche Zeile die Tageszeitung »Rheinische Post« (RP) auf ihrem Online-Portal als Überschrift wählte, nachdem ein junger jüdischer Israeli vier arabische Israelis mit einem Messer angegriffen hatte: »Jüdische Racheakte nach palästinensischen Attacken«. Auch nach mehrmaliger Nachfrage blieb eine Antwort der RP bis Redaktionsschluss aus.