Film

»Speer war charmant, Dönitz dumm«

»Meine jüdische Identität ist für mich nur ein politisches Thema.Ansonsten interessiert sie mich nicht«: Marcel Ophüls. Foto: dpa

Herr Ophüls, Ihr Vater Max Ophüls musste als Jude 1933 Deutschland verlassen und kehrte dennoch nach 1945 relativ bald zurück. Warum?
Mein Vater gehörte zu den wenigen Emigranten, die keine Ressentiments hatten, keine Rachegefühle, keine negative Einstellung. Er war ganz und gar von der deutschen Kultur geprägt. Als er emigrieren musste, hatte er ja mehr als 100 Theaterinszenierungen hinter sich. Er war nicht der Einzige, dem es so ging, bei Fritz Kortner war es ähnlich. Ihr Bedürfnis, wieder mit Deutschland und mit deutschen Menschen Kontakt zu haben, war deshalb wahrscheinlich sehr viel größer als bei vielen anderen.

Und bei Ihnen?
Wie so oft war ich in meiner Haltung sehr stark beeinflusst von meinem Vater. Deutsch war unsere Familiensprache, die Intimsprache. Ich weiß noch, wie ich bei Aachen über die Grenze kam. Plötzlich standen auf dem Bahnsteig lauter Leute, die meine Intimsprache sprachen. Ich erinnere mich an eine Dame, die laut auf dem Bahnsteig sagte: »In einer Stunde erblicke ich Dieters Antlitz.« Das ist mir im Gedächtnis geblieben. Deutsch war zwar unsere Intimsprache, aber wir haben, glaube ich, das Wort »Antlitz« nie benutzt.

Sie waren im Exil aufgewachsen. Wie haben Sie als junger Erwachsener die Deutschen der Nachkriegszeit erlebt?

In meiner zweiten Heimat, den USA, war die Atmosphäre sehr freiheitlich und optimistisch, nachdem man den Krieg gewonnen hatte, eine Mischung aus Naivität und Zukunftsglauben: »The Victory of American Democracy«. Das schien auch mir eine Art von Selbstverständlichkeit. Im zerstörten Europa war das tägliche Leben ganz anders und viel komplizierter, auch innerlich komplizierter. Das habe ich erst allmählich verstanden und verarbeiten können im Zusammenhang mit meinem eigenen Leben. Die Deutschen waren steif, kühl, beschämt, wenn Sie so wollen. Es hat lange gedauert, bis sie lockerer wurden. Die 50er-Jahre erscheinen im Rückblick paranoid und repressiv. Zum Teil ist das aber eine Täuschung. Die Bewegungen der 60er-Jahre haben rückwirkend propagandistisch gearbeitet, auch um sich selbst heroisch erscheinen zu lassen.

Zu diesen frühen rebellischen Sechzigern gehörte auch das Schlagwort des »Neuen Deutschen Films«: »Papas Kino ist tot«.
Bei »Papas Kino ist tot« war meine Reaktion eine ganz einfache: Nein, meines Papas Kino ist nicht tot. Was natürlich auch nicht ganz stimmte. Denn die Nouvelle Vague und das Neue Deutsche Kino waren richtig. Es gab viel aufzuräumen, es war sehr notwendig. Durch den Zweiten Weltkrieg war es auch in der Kultur zu Versteifungen gekommen.

Ihre gerade erschienene Biografie haben Sie »Meines Vaters Sohn« genannt. Eine mutige Entscheidung, sich in Ihrem Alter – Sie sind 87 – als Sohn zu positionieren.
Ach, wissen Sie, wenn ich es nicht zugeben würde, würden es die anderen für mich tun. Es liegt ja auf der Hand. Außerdem gibt es keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen oder damit unzufrieden zu sein. Diesen Vater gehabt zu haben, als Begleitung ins Leben, als Lehrmeister, als Freund, vor allem als Freund, ist ein unglaubliches Privileg.

Was war das Besondere an Ihres Papas Kino?
Seine Filme haben diese unwahrscheinliche Harmonie, dieses Gefühl, so wahnsinnig, wenn auch in tragischer Weise, aber mit Lebenslust mit dem Leben fertig zu werden: Ja, das Leben ist eine Tragödie, aber man muss es in die Hand kriegen. Dieses geradezu musikalische Gefühl – mein Vater hatte eine einzigartige musikalische Einstellung zum Leben. Er hat zu Hollywood kein negatives Verhältnis gehabt. Aber Lieblingsregisseur von meinem Alten war ganz klar und ohne jeden Zweifel Friedrich Wilhelm Murnau. Weit vor allen anderen.

Sie traten dann selbst in seine Fußstapfen, wurden aber nach zwei Spielfilmen zum Dokumentaristen, der sich mit Schuld und Sühne und dem Faschismus im 20. Jahrhundert befasste. Wie kam es dazu?
Das kam einfach auf mich zu. Ich musste Geld verdienen. Als Spielfilmregisseur konnte ich das nicht, nachdem mein zweiter Film keinen Erfolg hatte. Ich habe kein Sendungsbewusstsein empfunden. Ich hatte mir nicht von vornherein vorgenommen, jetzt mein Leben lang den Leuten ins Gewissen zu schauen und sie zu entlarven.

Sie haben dann aber sehr schnell vor allem mit den Tätern zu tun gehabt – Schreibtischtäter, Soldaten und reine Killer. Wie tritt man Menschen gegenüber, die, wie Klaus Barbie oder Albert Speer, einen in früheren Jahren potenziell ermordet hätten?
Ich habe darüber nicht viel nachgedacht. Vielleicht habe ich mir durch eine Mischung aus Leichtsinn und Abenteuerlust eine Art dicke Haut angeschafft. Das ist schon möglich. Wenn man sich auf so eine Situation einlässt, versucht man erst einmal, persönliche Gefühle zu vergessen oder so zu tun, als würden sie nie aufkommen. Speer war natürlich mitverantwortlich für Tausende und Abertausende von geopferten Leben. Zugleich war er ein sehr charmanter Mann, mit dem man leicht und gut und zum Teil auch lustig Gespräche führen konnte. Kaum zu glauben, oder?

Und Großadmiral Karl Dönitz, Hitlers Nachfolger als Staatsoberhaupt?
Gerade Dönitz reagierte sehr, sehr dumm. Da hat Hitler sich doch in den letzten Tagen den Allerdümmsten ausgesucht. Dönitz entlarvte sich selbst. Als ich das Interview mit ihm gedreht habe, kam ich absichtlich zu spät, um ihn aus der Fassung zu bringen. Er war dann auch sehr verärgert. Umso überraschter war ich, als wir fertig waren. Da stand er auf und fragte: »Nun, war ich gut?« (lacht)

Ihr erster Dokumentarfilm »Das Haus nebenan« – im französischen Original »Le Chagrin et la Pitié« – handelt von Widerstand und Kollaboration in der französischen Stadt Clermont-Ferrand. Was hat Sie dort besonders interessiert?
Clermont-Ferrand haben wir ausgesucht, weil es in der Stadt sehr verschiedene soziale Kategorien gab. Trotzdem glaube ich nicht, dass der Film sehr soziologisch war. Einen statistischen Mittelwert zu spiegeln, hoffe ich vermieden zu haben. Es ging in dem Film zunächst einmal um die Entscheidungen, die von den Franzosen unter der deutschen Besatzung getroffen worden sind. Die meisten versuchten einfach, zu überleben und sich aus der Zeitgeschichte herauszuhalten, sich in den privaten Raum der Familie zurückzuziehen, und sich dadurch auch vor Gewalt zu schützen. Aus zunächst einmal sehr verständlichen Gründen verhält sich die Mehrheit in solchen Krisensituationen immer so. Diejenigen, die sich dann entscheiden, zu kollaborieren oder Widerstand zu leisten, sind immer eine kleine Minderheit. Weil Widerstand zu leisten auch in dieser Zeit eine sehr riskante Sache war. Es gab Folterungen, die anderen Familienmitglieder wurden auch drangsaliert.

Darum ging es: die kleinen Entscheidungen, die den Rest des Lebens prägen?
Ja. Vielleicht waren es bei Speer auch kleine Dinge. Die Verführung durch die Macht, durch seine Stellung als Architekt des Führers. Er wollte einfach Karriere machen. Barbie, den ich in Hotel Terminus porträtierte, hatte eigentlich Priester werden wollen – man mag es kaum glauben. Der Tod seines Vaters brachte ihn dann dazu, zur Polizei zu gehen.

Empfinden Sie so etwas wie eine jüdische Identität?
Ich glaube nicht an den lieben Gott – der Gedanke ist mir unappetitlich. Aber wir wissen es natürlich nicht. Meine jüdische Identität ist für mich daher auch nur ein politisches
Thema. Politisch verleugne ich sie nicht, im Gegenteil. Ansonsten
interessiert sie mich nicht.

Sie arbeiten aktuell an einem neuen Film, der für das Festival von Cannes im Sommer fertig werden soll. Es geht darin, hört man, um »Charlie Hebdo«. Können Sie uns mehr verraten?
Darüber möchte ich bitte nicht reden, bevor der Film fertig ist. Aber ich hoffe, es wird ein gelungener Film. Ich glaube zwar nicht, dass Kino die Welt verändern kann. Aber es kann sich engagieren, Position beziehen. Einzelne Filme, wenn sie zur rechten Zeit kommen, können viel auslösen. Die Ereignisse um »Charlie Hebdo« zeigen, was Kunst vermag. Aber als Franzose und überhaupt als Mensch unserer Zeit freue ich mich wahnsinnig über die vier Millionen Menschen, die vor einem Monat auf die Straße gegangen sind. Das war eine wunderschöne und sehr notwendige Reaktion. Was geschehen ist, war schrecklich, aber ohne die vier Millionen wäre es noch viel schrecklicher.

Marcel Ophüls, 1927 in Frankfurt geboren, heute 87 Jahre alt und in Paris lebend, ist einer der wichtigsten Dokumentarfilmregisseure der Gegenwart. In Filmen über die Belagerung von Sarajewo, den Prozess gegen den Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, oder die Kollaboration der Franzosen hat er sich den Tätern gestellt, so wie Claude Lanzmann, sein einstiger Freund und heutiger Antipode, den Opfern. Ophüls’ persönliches Lieblingswerk ist »The Memory of Justice«, zu deutsch »Nicht schuldig«, über die Nürnberger Prozesse und insbesondere Hitlers Architekten und Rüstungsminister Albert Speer. Über 30 Jahre war der Film in den Archiven verschollen und praktisch nicht zu sehen, jetzt wurde er restauriert und bei der soeben zu Ende gegangenen Berlinale neu aufgeführt.

Im Berliner Propyläen Verlag sind gerade Ophüls’ Memoiren »Meines Vaters Sohn« (320 S., 22 €) erschienen. Darin erzählt er von seinem Vater, dem berühmten Regisseur Max Ophüls, und berichtet anekdotenreich und mitunter bissig über Begegnungen mit Marlene Dietrich, Bertolt Brecht, Jean-Paul Belmondo und vielen anderen.

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