Musik

Spannende Dissonanzen

Was für eine überraschende Wendung! Statt in einer entspannten Harmonie zu landen, führt der Kantor und Komponist Samuel Lampel (1884–1942) gleich nach wenigen Takten von »Mah tauwu« in spannungsgeladene Dissonanzen. Und gibt damit seinen musikalischen Stil zu erkennen, der eher ungewöhnlich für die Synagogalmusik seiner Zeit ist.

Komplexe Harmonien und chromatische Linien baut er in seine liturgischen Werke ein, ebenso wechseln sich Einstimmigkeit und Polyphonie ab – wobei erstere einen höheren Anteil auf der soeben erschienenen CD Abendgebet für Schabbat hat. Dazu gibt es neben den teilweise schwierigen Harmonien noch eine andere Herausforderung. Der Sopran muss sehr hohe Lagen bewältigen – was ihm aber gut gelingt.

ORGEL Lampels Musik ist nicht leicht aufzuführen, was dem Kantor bewusst war. So schrieb er im Vorwort zu seiner Sammlung Kol Sch’muel, dass viele der Stücke »nur mit einem ausgezeichneten Chorkörper und einer sehr guten Orgel ausgeführt werden können«, dies sei ihm »wohl bekannt – und mein herzlicher Wunsch«.

Fast 100 Jahre später ist dieser in Erfüllung gegangen. Der Leipziger Synagogalchor singt und gestaltet die Musik unter der Leitung des neuen Dirigenten Philipp Goldmann abwechslungsreich und stilsicher.

Die Aufnahme dokumentiert einen bisher unbekannten Teil Leipziger Musikgeschichte: Lampel, der von 1914 bis 1938 Kantor an der liberalen Großen Gemeindesynagoge in der Leipziger Gottsched­straße war, hatte 1928 im Verlag M. W. Kauffmann den Notenband Kol Sch’muel (Die Stimme Samuels) publiziert. Die Sammlung umfasst 57 liturgische Kompositionen und Bearbeitungen für gemischten Chor, Kantor und Orgel.

CHOR Aus diesen Stücken hat der Chor zusammen mit Kantor Assaf Levitin den für den Schabbat-Gottesdienst bestimmten Teil ausgewählt, 19 Stücke vom einleitenden »Mah tauwu« bis zum Ausgangslied »Adaun aulom«, darunter das beschwingte Strophenlied »L’cho daudi« zum Empfang des Schabbats, dramatische Psalmvertonungen, Gebete, Bearbeitungen und Kompositionen traditioneller Melodien.

Durch die Schoa gerieten Lampels Werke leider in Vergessenheit. Assaf Levitin, liberaler Kantor der Jüdischen Gemeinde Hamburg, gibt mit seinem ausdrucksvollen Bassbariton ein sicheres Fundament. Zusätzlich hat er bei einigen Werken Ergänzungen nach traditioneller Weise hinzugefügt. Organist Ivo Mrvelj begleitet sensibel.

Keine jüdische Liturgie ist so oft zu hören wie die von Kabbalat Schabbat – und sie ist übersichtlich kurz.

Samuel Lampel wurde 1884 in Berlin geboren, wuchs bei Pflegeeltern auf und spürte früh, dass er Komponist synagogaler Musik werden wollte. Doch zunächst ließ er sich als Lehrer ausbilden und wurde 1914 Hilfskantor im Leipziger Tempel, der Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße.

Später amtierte er als Hauptkantor, dann schließlich als Oberkantor. Zahlreiche seiner Werke entstanden in dieser Zeit. Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Synagoge in der Gottschedstraße von den Nazis erst angezündet, dann abgerissen. In der Synagoge Keilstraße wirkte Samuel Lampel als Kantor noch bis Juni 1942. Im Juli desselben Jahres wurden er und seine Frau Rosa Richtung Osten deportiert und vermutlich in Auschwitz ermordet.

PRÜFSTEIN Keine jüdische Liturgie ist so oft zu hören wie die von Kabbalat Schabbat – und sie ist übersichtlich kurz. Was für den Feiernden von Vorteil sein mag, ist für den Komponisten eine Herausforderung, denn diese Liturgie gilt auch als Prüfstein für das fachliche Wissen des Kantors – und das könne sich bei Lampel sehen lassen, schreibt Assaf Levitin im Booklet zur CD: »Voller Fantasie, gleichzeitig für unsere Ohren eher modern.«

Seit 1962 pflegt der Leipziger Synagogalchor jüdische Musik und hält damit auch eine Leipziger Tradition wach: Der Mitteldeutsche Rundfunk übertrug ab 1927 bis 1933 Synagogenmusik. Der Initiator: Samuel Lampel. Nur wenige Schritte von der Stelle, wo einst »seine« Synagoge stand, wurde die CD in der Leipziger Thomaskirche aufgenommen. Organist Ivo Mrvelj spielte an der Sauerorgel.

Nun warten 38 weitere Werke aus Samuel Lampels Sammlung darauf, ebenfalls an die Öffentlichkeit zu gelangen. Die alten und neuen Fans des Leipziger Synagogalchors sind schon ungeduldig.

Samuel Lampel: »Abendgebet für Schabbat, Leipzig 1928«. Rondeau Production, Leipzig 2023, 20,99 €

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025