Pro & Contra

Sollen wir auf Fleisch verzichten?

Du bist was du isst. Foto: Getty Images

Pro: Rabbiner Avichai Apel sagt: »In ferner Zukunft werden alle Menschen Vegetarier sein.«

Vegetarier zu sein, ist derzeit »in« – gerade angesichts der Zustände im fleischverarbeitenden Gewerbe. Ich persönlich bin Vegetarier, doch ich möchte nicht einfach nur »Moral predigen«. Vielmehr möchte ich einen Blick in unsere Geschichte und die Quellen werfen, um zu einer differenzierten Position zu kommen.

Ob sich unsere Vorfahren über den Fleischverzehr viele Gedanken gemacht haben, bin ich nicht sicher. Wenn sie auf Fleisch verzichteten, geschah dies oft aufgrund ihrer finanziellen Situation. Sie hatten aber auch einen härteren Lebensstil, haben anders gearbeitet und gelebt.

Moral Die Geschichte des Fleischverzehrs begann damit, dass in der Welt eine große moralische Frage auftauchte. Nach der Flut in den Tagen von Noach erlaubte uns G’tt, auch Fleisch und Blut zu essen (1. Buch Mose 9,3).

Adam und Chawa und alle zehn Generationen vor Noach hingegen durften kein Fleisch essen, sie waren streng vegetarisch. Sie lebten aber auch länger und waren nicht überall auf der Welt verteilt. Das Klima war mild, und der Mensch konnte Hunderte von Jahren zurechtkommen, ohne Fleisch zu essen.

Die Mineralstoffe und Vitamine von Obst und Gemüse reichten, damit der Mensch lange leben und gesund bleiben konnte. Mit der Flut hatte sich alles verändert. Der Mensch brauchte Fleisch, um stärker zu sein.
Dennoch dürfen Tiere nicht missachtet werden.

Kalb Rabbi Jehuda ha-Nassi, unser vorbildlicher Gelehrter und Anführer des jüdischen Volkes, machte einmal laut Talmud einen großen Fehler: Ein Kalb wurde zu einem Schlachthaus geführt. Als die Metzger den Rabbiner auf seinem Weg einholten, entkam das Kalb, rannte mit klagendem Gebrüll auf den Rabbi zu und versteckte seinen Kopf im Saum seiner Kleider. Aber der Rabbi vertrieb das Kalb und sagte: »Geh dahin, wohin du geführt wirst – du wurdest dafür geschaffen!«

Obwohl nichts Böses in seinem Ton klang, wurde er bestraft, da er nicht genügend Barmherzigkeit empfand. Er musste lange Jahre leiden. Dann sah der Rabbi, dass sein Dienstmädchen eine Mäusebrut fand und die Tiere zusammen mit dem Müll wegfegen wollte. Da sagte er: »Lass sie bitte! Es steht doch geschrieben: Seine Barmherzigkeit gilt für all Seine Geschöpfe!« So wurde deutlich, dass er die Lehre verstanden hatte. Er fand Erbarmen, und seine Leiden hörten auf (Baba Mezia, 85a).

Auch wenn die Tora uns den Fleischverzehr erlaubt hat, ist er mit vielen Regeln und Beschränkungen verbunden. Kein Mensch, auch nicht die »Söhne Noachs«–die Nichtjuden –, darf lebendige Tiere essen. Viele Arten von Tieren dürfen wir gar nicht essen. Das Schächten hat mehrere Regeln, um Tiere zu schützen. Wir dürfen nicht das Blut der Tiere essen, und vieles vom Fett darf auch nicht gegessen werden.

Tora Die Tora drückt sich negativ aus, wenn es um Fleischessen geht: »Und du sprichst: Ich möchte Fleisch essen – weil deine Seele Fleisch zu essen begehrt – wie es immer deine Seele begehrt, magst du Fleisch essen« (5. Buch Mose 12,20). Aber brauchst du es wirklich für deine Gesundheit und Stärke, oder könntest du auch ohne zurechtkommen? Wenn man Appetit auf Fleisch hat, darf man es essen, sagt der Talmud (Chulin 84a).

Ein »Am Haretz«, ein in Tora und Tradition ungebildeter Mensch, darf hingegen laut der Gemara kein Fleisch essen (Pesachim 49b). »Warum?« »Weil, was sind seine Vorteile gegenüber den Tieren?«, fragt und erklärt Rabbi Mosche Alschech zur Fleisch-Erlaubnis im 1. Buch Mose 9,3.

Rabbiner Awraham Isaac Kook (1865–1935) schrieb den Essay Eine Vision vom Vegetarismus und Frieden. Es könne nicht sein, dass wir für immer die Erlaubnis bekommen haben, Fleisch zu essen, argumentiert er: Denn es war zunächst verboten, und nur wegen der moralischen Niederlage der Welt wurde uns der Fleischverzehr erlaubt. Rabbiner Kook glaubte: Es wird ein Tag kommen, wenn die Menschheit es schaffen wird, sich wieder auf ein moralisches Niveau zu bringen, wo man kein Fleisch mehr zu essen braucht.

Niveau Wir sind aber leider noch nicht so weit. Die Geschichte der Menschheit hat gezeigt, dass Menschen auch Menschen auf die schlimmste Weise töten. Es wäre falsch, von uns jetzt dieses Niveau zu fordern, solange wir nicht einmal die elementarste moralische Ebene erreicht haben. Einzelne Menschen können sich auf diesen Weg begeben. Die gesamte Menschheit wird dazu auch kommen – aber das dauert noch.

Ja, wir müssen achtsamer mit Tieren umgehen. Strenge Regeln auf den Schlachthöfen und angemessene Haltung auf Bauernhöfen müssen beachtet werden. Fleischkonsum im Übermaß ist kein Muss. Laut Halacha soll ein Mensch, der Fleisch isst, es vor allem am Schabbat, an Feiertagen und bei den Mahlzeiten der Freude und Mizwa, wie bei Brit Mila und Heiratsfeier, genießen, wenn nicht die negative Lust entscheidet, was man isst. Dennoch ist es klar, dass die Zeit kommen wird, in der wir neue Ernährungssysteme entwickeln, die moralischen Erwartungen und dem künftigen Niveau entsprechen – und das ohne Fleisch.

Avichai Apel ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).


Contra: Rabbiner Jehoschua Ahrens: Komplette Entsagung ist auch angesichts aktueller Skandale nicht die Lösung

Zugegeben, angesichts der Skandale in der Fleischindustrie bekommt der Fleischkonsum momentan im wahrsten Sinne des Wortes einen schlechten Beigeschmack. Doch obwohl ich sehr viel Sympathie mit dem Vegetarismus und Veganismus habe, ist kompletter Fleischverzicht für mich nicht die Lösung der Probleme in der Nahrungsmittelindustrie.

Für mich ist eher die Frage, wann, wie viel und welches Fleisch wir essen und wer im Zentrum der Nahrungsmittelindustrie steht: Mensch und Tier (und Umwelt) oder der Profit? Im Judentum sind eben gerade darum die Regeln der Speisegesetze vielfältig und streng. Der Fleischkonsum ist erlaubt, wie es in der Tora heißt (5. Buch Mose 12,20).

Rambam Für den Rambam und für Rabbiner Josef Karo im Schulchan Aruch ist das sogar eine Pflicht an Schabbat und den Feiertagen, um die Freude und den feierlichen, besonderen Charakter dieser Tage zu erhöhen. Tiere wurden im Tempel geopfert und größtenteils auch gegessen, und heute, nach Zerstörung des Tempels, sind unsere Tische symbolisch zum Altar geworden, wie es der Talmud an verschiedenen Stellen hervorhebt. Der Verzehr von Fleisch hat also immer etwas von Heiligkeit.

Trotzdem ist Fleischkonsum ein Kompromiss. Der Respekt vor Tieren hat eine große Bedeutung im Judentum. Wir müssen darauf achten, dass Tiere nicht unnötig leiden, sie müssen quasi artgerecht aufwachsen und sollen noch vor den Menschen versorgt werden.

Wenn wir Tiere konsumieren, dann nur ausgewählte, domestizierte Tiere (3. Buch Mose 11), die rituell (und damit schmerzlos) geschlachtet wurden (5. Buch Mose 12, 21). Eine Kuh und ein Kalb dürfen nicht am gleichen Tag geschlachtet werden, die Jagd ist grundsätzlich verboten. Fleisch darf nicht mit Milchprodukten zubereitet werden (2. Buch Mose 34,26). All das hat einen wichtigen Grund: Der Tierkonsum muss unserem ethisch-moralischen Werteverständnis entsprechen. Zwar kommt es auch in koscheren Schlachthäusern zu Skandalen, aber die Kaschrutregeln helfen dabei, Situationen wie in konventionellen Schlachtbetrieben zu vermeiden.

Schechita Zumindest bei den koscheren Schlachtungen hier in Europa, die ich persönlich kenne, läuft es tatsächlich anders: Die Schlachtung erfolgt durch sehr gut ausgebildete Schochtim, unter strenger Aufsicht von Maschgichim. Der ökonomische Druck führt bei der Schechita gerade nicht zu Fahrlässigkeit, sondern zur Sorgfalt, denn bei Fehlern wäre das Tier unkoscher und daher weniger wert als ein koscheres Tier.

Ebenso ist die Quantität im Vergleich zur konventionellen Fleischindustrie sehr gering. Daher werden die Tiere einzeln nacheinander und mit großer Sorgfalt geschlachtet, es gibt zudem keine langen Transportwege zur Schlachtung. Auch wenn in der Koscherschlachtung noch einiges verbesserungswürdig ist, läuft selbst nach heutigem Stand also doch schon vieles besser als in der konventionellen Schlachtung.

Das hat auch mit dem Einfluss der Religion zu tun. In Israel wurde ein Kaschrutzertifikat zurückgezogen, nachdem schlechte Zustände in einer Hühnerfarm bekannt wurden. Die Hühnerfarm lenkte ein und änderte die Produktion. Rabbiner Moshe Feinstein verbot die Aufzucht von Kälbern in beengten Boxen und die Fütterung von künstlichem Tierfutter (Iggrot Mosche Ewen HaEser 4,92). Entsprechend änderte sich die koschere Kälberzucht. So etwas wäre in der konventionellen Fleisch-industrie nicht möglich, hier ist die Lobby zu stark.

Kaschrut Die jüdischen Speisevorschriften werden manchmal als anachronistisch belächelt, aber wir sehen jetzt: Würden alle nach koscheren Regeln leben, hätten wir weder einen Fleischskandal in Deutschland noch das Coronavirus, sind doch gerade die ungeregelten Fleischmärkte Asiens immer wieder die Quelle des Ausbruchs von gefährlichen Viren und anderen Krankheiten.

Bei der Kaschrut geht es also nicht um die Frage nach dem technischen Ablauf einer Mahlzeit, sondern um ein ganz bewusstes Essen. Es geht darum, wann wir essen, was wir essen, die Art und Weise, wie wir essen, und den Geist, in dem wir essen. Das prägt unsere jüdische Persönlichkeit und unterscheidet uns vom Tier. Selbst die Mahlzeit wird von Heiligkeit durchdrungen.

Lifestyle Müssen wir jeden Tag Fleisch essen? Muss es so billig und so viel wie möglich sein? Ich denke nicht! Das entspricht nicht unserem jüdischen Verständnis. Es gibt große Rabbiner, die einen vegetarischen oder veganen Lebensstil erlauben oder, basierend auf der Schöpfungsgeschichte, eine fleischlose Ernährung sogar als Ideal betrachten. Doch sogar Rabbiner Kook, der glaubte, Vegetarismus würde in der messianischen Zeit zur Norm werden, aß Fleisch am Schabbat und an den Feiertagen.

Eine echte Lösung der Probleme in der Nahrungsmittelindustrie ist die vegetarische oder vegane Ernährung ohnehin nicht. Für Palmöl werden ganze Regenwälder abgeholzt oder brandgerodet. Dabei sterben viele Tiere direkt oder verlieren ihren Lebensraum, von den ökologischen Langzeitfolgen abgesehen. Es muss insgesamt ein Umdenken beim Essen geben, sonst ändert sich nichts. Dazu gehört Respekt vor Tieren, aber auch, dass wir bewusster essen, weniger konsumieren und weniger wegwerfen.

Jehoschua Ahrens ist Director Central Europe des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation (JCUC) in Jerusalem und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.

Alexander Estis

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