Ob und wie eine Autorin in den Kanon der großen Literatur aufgenommen wird, ist eine komplexe Frage – und hängt nicht nur von der Qualität ihrer Werke ab. Gabriele Tergit war zwar mit ihren Reportagen und ihrem Debütroman in der Weimarer Republik äußerst erfolgreich, konnte aber als jüdische Autorin des Exils und der Nachkriegszeit keine Leserschaft mehr finden. Wenn Tergit jetzt »wiederentdeckt« wird, so zeigt das auch einen Wandel in der deutschen Literaturlandschaft an, eine gewachsene Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und ein großes Interesse an jüdischen Themen.
Tergits Romane sind Zeitromane im besten Sinne. Unzählige Figuren und Situationen fächern ein historisches Gesellschaftspanorama auf, in dem ganz unterschiedliche Antworten auf die großen Fragen der Moderne zur Sprache kommen – auf innerjüdische Fragen nach dem Verhältnis zur Tradition, nach den Optionen der Assimilation oder des Zionismus, aber auch auf Fragen nach dem Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, nach Möglichkeiten sozialer Verbesserungen und nach den sich wandelnden Lebensentwürfen moderner Männer und Frauen.
In ihren Reportagen lenkte Gabriele Tergit den Blick auf aktuelle politische Fragen.
Tergit, die 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geboren wurde und in einem assimilierten jüdischen Elternhaus aufwuchs, wusste, wovon sie schrieb. Noch während ihres Studiums der Geschichte begann sie, journalistisch zu arbeiten, und war während der 1920er-Jahre und bis 1933 vor allem als Gerichtsreporterin erfolgreich. In ihren Reportagen lenkte sie den Blick auf aktuelle politische Fragen, kritisierte soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit und scheute sich nicht, die Radikalisierung der Rechten sowie die Entdemokratisierung der Justiz der Weimarer Republik scharf zu kommentieren.
DEBÜT Die genauen Beobachtungen und pointierten Beschreibungen finden sich auch in Tergits Romanen. 1931 veröffentlichte sie ihr Debüt Käsebier erobert den Kurfürstendamm, dessen kunstvoll einfache, oft sehr komische und immer hochpräzise Schilderung verschiedener Berliner Milieus ein großer Erfolg war. Sofort begann Tergit mit der Arbeit an ihrem zweiten Roman Effingers – doch im März 1933 versuchte ein SA-Kommando, ihre Wohnung zu stürmen. Tergit floh am nächsten Tag nach Prag und später mit ihrem Mann, dem Architekten Heinz Reifenberg, und dem gemeinsamen Sohn nach Palästina. Der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Situation des damaligen britischen Mandatsgebiets widmete Tergit in den folgenden Jahren eine Reihe von Reportagen. Doch konnte sie dort nicht heimisch werden, entschied sich zur nochmaligen Emigration und lebte ab 1938 in London.
Gabriele Tergits großer Familienroman Effingers, der die Geschichte dreier jüdischer Familien über vier Generationen hinweg von 1878 bis 1948 erzählt, wurde zum größten Teil im Exil geschrieben – während die Welt, die der Roman beschreibt, vernichtet wurde.
Sie wünsche sich, so sagte Tergit Ende der 40er-Jahre einem Kollegen, »daß jeder deutsche Jude sagt: ja, so waren wir, so haben wir gelebt zwischen 1878 und 1939, und daß sie es ihren Kindern in die Hände legen mit den Worten: damit ihr wißt, wie’s war«.
Ein ähnlicher Impuls steht hinter ihrem dritten Roman So war’s eben, der erst in diesem Jahr aus dem Nachlass herausgegeben wurde. Dieser Roman, der zunächst den Titel Die Vertriebenen tragen sollte, ist dem Versuch gewidmet, anhand einer ebenso breiten wie profunden Beschreibung deutschen und deutsch-jüdischen Lebens seit der Jahrhundertwende eine Erklärung für Nationalsozialismus und Schoa zu finden. »Warum, wieso, weshalb Hitler?« lautet auch der Titel eines unvollendeten Essays Tergits, die mit dieser Frage zeitlebens nicht fertig wurde.
Sie erfährt eine späte Anerkennung als große Autorin der Weimarer Republik und des Exils.
Dass So war’s eben zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb, sich die Verlagssuche für Effingers ausgesprochen schwierig gestaltete und der Roman, als er 1951 erschien, weitgehend ohne Echo verhallte, erklärt sich aus der doppelten Marginalisierung Tergits als Frau und Jüdin. In den 50er- und 60er-Jahren war das deutschsprachige Publikum nicht bereit, Bücher mit so vielen jüdischen Figuren und der permanenten Frage nach dem Verhältnis von Juden und Deutschen zu lesen – das deutschsprachige jüdische Publikum aber gab es nicht mehr.
verlag In den 70er-Jahren gab es eine erste kleine »Wiederentdeckung« Tergits. Doch erst seit ihre Werke in den vergangenen Jahren im Schöffling-Verlag unter der Herausgeberschaft von Nicole Henneberg neu aufgelegt und zum Teil erstmals veröffentlicht werden, erfährt Tergit eine späte Anerkennung als eine große jüdische Autorin der Weimarer Republik und des Exils. Zahlreiche sehr positive Besprechungen und auch eine beginnende genauere literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben lassen erwarten, dass Gabriele Tergit ihren Platz im deutsch-jüdischen Kanon der Moderne nun gefunden hat. Mögen noch viele Leserinnen und Leser ihre Werke kennen und schätzen lernen!
Gabriele Tergit: »So war’s eben«. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021, 624 S., 28 €