Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
Wann ist ein Buch »jüdisch«? Wenn die Hauptfiguren Stern, Kohn und Moskovitz heißen? Oder die Autoren? Wenn es von der Schoa erzählt? Von Israel? Oder von Neurosen? Oder geht es doch um etwas anderes?
Nicht viele nach 1975 geborenen Juden in den USA und Europa sind mit einer starken religiösen Identität aufgewachsen. Da gibt es vielleicht traumatische Geschichten von peinlichen Bnei Mitzvot und überkompensierende Chanukka-Feiern. Aber wer betrachtet es schon als essenziellen Teil der eigenen Identität, keine Schalentiere zu essen und am Samstag nicht ans Telefon zu gehen? Und wer glaubt schon an Gott? Oder gar G’tt? Das spiegelt sich in unseren Helden wider: Kein Abend vergeht, ohne dass Jon Stewart, der umjubelte Moderator der US-Comedysendung »The Daily Show«, Witze über sein Jüdischsein macht – darüber, dass er an Jom Kippur einen Schinken-Bagel gegessen hat oder über seine Angst, die Vorhaut könnte nachts nachwachsen, weil er so unrituell lebt.
Andererseits werden immer mehr Stimmen laut, die den Verlust der Tradition beklagen – nicht nur aus der Chabad-Ecke, sondern auch aus dem liberalen Judentum. Ihre Haltung: Wir haben die Säkularisierung an den Rand des Möglichen getrieben, wenn wir so weitermachen, sind wir bald keine Juden mehr.
messiaskind 2010 sind in den USA gleich zwei große Romane erschienen, die diesen Konflikt behandeln – fast schon größenwahnsinnige Bücher, die um Wesen, Seele und Geist der Juden ringen. Da ist zum einen das Debüt The Instructions von Adam Levin. Auf mehr als 1.000 Seiten werden vier Tage aus dem Leben von Gurion ben-Judah Macabee nacherzählt, eines zehnjährigen Schülers aus Chicago. Gurion ist möglicherweise der Messias, der Zaddik hador, der Erlöser des jüdischen Volkes.
Seine Mitschüler nennen ihn Rabbi, seine Lehrer hassen ihn und haben Angst, weil er zu Besserwisserei und Gewalt neigt. Gurion fühlt sich unterdrückt und eingesperrt – er möchte seine Zeit mit dem Lesen der Tora und dem Mädchen Eliza June Westmark (einer Christin) verbringen. Doch seine Feinde, die Lehrer, Erzieher und Prügler, hindern ihn daran. Also sammelt der Zehnjährige eine Gefolgschaft um sich, stattet sie mit Zwillen aus und nimmt den Kampf auf. Der »Gurionische Krieg« beginnt.
The Instructions präsentiert sich als moderne Heilige Schrift und hat auch sonst alle Eigenschaften eines fast zu ambitionierten Debütromans. Levin bedient sich im Werkzeugkasten der Postmoderne: Erzählte Passagen wechseln sich ab mit Mails und Schulakten, der Autor schmückt sein Werk mit Anspielungen auf Joyce, Cervantes und das Buch Jona aus der Tora. Zum Schluss hat sogar Philip Roth einen kleinen Nebenauftritt als Moses.
Während The Instructions ein hoffnungsvolles Buch ist, wenn auch auf verquere Art, geht es in Joshua Cohens Witz trotz des Titels nicht sehr lustig zu – es sei denn, man findet Kafka und den Weltuntergang komisch. Auch Cohens Hauptfigur Benjamin Israelien ist kein ganz gewöhnlicher Jude. Er ist »the last Jew on earth«, nachdem kurz vor dem Millennium alle anderen Kinder Israels plötzlich sterben. Ohne nervige Vertreter wird das Judentum eine äußerst populäre Religion.
Die gojische Weltbevölkerung kann es kaum erwarten, den Giur hinter sich zu bringen. Und das ist nur der Anfang. Der 30-jährige Cohen entwirft eine Phantasmagorie vom Ende der Kultur, einen delirischen Fiebertraum mit Tabubrüchen und finsterstem Humor: Isaac Bashevis Singer auf Speed. Cohens Sprache ist zerfasert, Jiddisch, New-York-Slang und Hebräisch fließen zusammen in einem babylonischen Sprachwirrwarr. Cohen ist der jüdische Céline.
So unterschiedlich die Bücher sind: Auf ihre Weise weigern sich beide, im Judesein nur die Pointe für die eigene Existenz zu sehen. Es eint sie das Interesse an der Philosophie und der Tradition des Judentums, über das Klischee des selbsthassenden Dreitagejuden hinaus. Levin und Cohen fragen, wie man in der modernen Welt orthodox sein kann, ohne sich in chassidischen Abkapselungen zu isolieren.
nonseller Das alles ist über die Maßen spannend – und inkompatibel mit dem deutschen Buchmarkt. Trotz begeisterter Rezensionen unter anderem in der New York Times hat sich bislang kein deutscher Verlag um die Übersetzungsrechte für die Bücher auch nur bemüht. Zum einen, weil die Übertragung wohl mehrere Jahre dauern würde und die Ausstrahlung der Originale wohl nur erahnen lassen könnte.
Zum anderen: Wer soll diese Bücher kaufen? Wen in Deutschland interessieren schon die philosophischen Kämpfe, die junge Juden mit sich selbst austragen, und in denen die Erinnerung an die Schoa, wenn überhaupt, nur wabernd im Hintergrund auftaucht? Wenn sie nichts mit der deutschen Geschichte und Identität zu tun hat oder wie Woody Allen sanft belächelt werden kann, ist jüdische Literatur hierzulande ein Nonseller. Die jüdischen Suchenden aber, zu denen diese Bücher sprechen wollen, erwartet Weltliteratur. Jüdische Weltliteratur.
Adam Levin: »The Instructions«. McSweeney’s, San Francisco 2010, 1.030 S., 29 US-$
Joshua Cohen: »Witz«, Dalkey, Champaign 2010, 800 S., 18,95 US-$