Briefwechsel

»Sie sind ein ekelhafter Mensch«

Die Zusammenarbeit mit Ihnen ist wahrlich eine Qual», schreibt Marcel Reich-Ranicki im Januar 1985 an den Dichter Peter Rühmkorf. Vor mehr als zwei Monaten habe er ihm einen Band von Robert Gernhardt zukommen lassen, weil Rühmkorf ihn unbedingt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung habe besprechen wollen. Doch noch immer sei keine Rezension eingetroffen, beklagt sich der legendäre wie gefürchtete Literaturkritiker.

«Ich bin eigentlich nicht dazu da, Mahnbriefe zu verschicken. Also senden Sie uns endlich Ihr Manuskript», fordert Reich-Ranicki den Dichter auf. Wenige Tage später dann, der Artikel ist inzwischen angekommen, bringt der Kritiker sein zwiespältiges Verhältnis zu Rühmkorf in seiner typischen, herrlich überspitzenden Art auf den Punkt: «Sie sind wirklich ein ekelhafter Mensch. Aber Ihr Aufsatz über Gernhardt ist vorzüglich, ja hervorragend.»

überraschend Nein, Freunde waren die beiden nie. Aber die Liebe zur Literatur und ihre gegenseitige Wertschätzung verband sie zeitlebens miteinander. Das belegt auch der jetzt erschienene Briefwechsel, den Christoph Hilse und Stephan Opitz editiert und vorbildlich kommentiert haben. Zwischen 1967 und 2006 schrieben Rühmkorf und Reich-Ranicki einander 287 Briefe. Und flaxten sie mitunter auch miteinander, herrschte doch stets ein «arbeitsorientierter Ton», wie Opitz im gelungenen Nachwort konstatiert.

Gleich nachdem Reich-Ranicki in Frankfurt das Literatur-Ressort übernommen hat, wendet er sich an den Dichter, den er als Autor für die Lyrikreihe «Frankfurter Anthologie» gewinnen will, damit er ein Gedicht von Joachim Ringelnatz interpretiert. Rühmkorf ist damals noch fast unbekannt und steht, wie er formuliert, «im Hemd» da, weil er zuletzt in drei Theaterstücke «so viel Jahre investiert und Geld geschossen» habe.

Ein Buch nach dem anderen hortet Rühmkorf – ohne auch nur einen Artikel zu liefern. Reich-Ranicki droht ihm daraufhin bald mit «furchtbarsten Strafmaßnahmen. Ich warte nun sehnsüchtig (und tue dies schon seit über einem Jahr) auf ihren Ringelnatz-Aufsatz. Gott hat für die Erschaffung der Welt sechs Tage gebraucht, und wie viel brauchen Sie für eine Kritik? Doch wird diese gewiss vollkommener sein als jene.»

Temperamente Als Rühmkorf trotzdem immer neue Titel besprechen will, antwortet Reich-Ranicki, er solle erst mal die machen, die er sich schon reserviert habe, und speist ihn lakonisch mit Heinrich Heines Worten ab: «Mein Liebchen, was willst du noch mehr?» Dagegen werden Debatten über die überschrittenen Textlängen in den Briefen zum «postalischen Leitmotiv», kokettiert Peter Rühmkorf einmal selbst. Immer wieder prallen die Temperamente aufeinander.

Der eine fühlt sich im alten Vorurteil bestätigt, dass ein Gespräch mit Lyrikern eigentlich gar nicht möglich sei. Der andere fühlt sich in «FAZ-Fron» genommen, durch dauernde Hetze und Termindruck zurück auf die Schulbank verbannt und wehrt sich: «Bitte mich nicht triezen!» Was der ganze «Saison-Fimmel» überhaupt soll, nur neue Bücher zu besprechen.

Während der Lektüre erwachen die Stimmen dieser zwei großen Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsära eindringlich wieder zum Leben: der 1920 in Polen geborene Jude, der als junger Mann das Warschauer Ghetto überlebte und als «Literaturpapst» später die Diskurse der Zeit maßgeblich prägte. Und auf der anderen Seite der 1929 in Dortmund als unehelicher Sohn einer Pastorentochter und eines reisenden Puppenspielers zur Welt gekommene Protestant, der zum wichtigsten Dichter seiner Zeit wurde, wie es 2008 im Nachruf hieß.

Debatten Die Korrespondenz gibt zudem einen guten Einblick ins Verlagswesen und in die große Zeit des Zeitungsjournalismus, in der noch so vieles möglich war. Das macht dieses Buch lesenswert, weniger die intellektuellen Debatten der Zeit. Die klingen in dieser eher pragmatischen Korrespondenz nur selten an.

Als Rühmkorf etwa zum 60. Geburtstag von Reich-Ranicki einen Aufsatz über «Literatur und Kritik» schreiben will und über die Anfeindungen, die Ranicki in der Öffentlichkeit erfährt – «ob ein latent antisemitischer Gemütszug eine Rolle spielt, ist mir dabei so interessant wie der, wie gesagt, wohlfeile, Aufruhr gegen den Exponenten des kritischen Establishments» –, reagiert der eher reserviert.

Obwohl Rühmkorf ihn mit einem Verweis auf Bertolt Brecht charmant bittet, ihm doch zu helfen: «Wir unterhalten uns normalhin ja immer wie Puntila und sein Knecht Matti, wobei Matti auch noch den Part des Betrunkenen übernimmt; nun brauche ich aber etwas ungeschäftsmäßige Offenheit auch von Ihnen.»

Schwierigkeiten Als Jahre später Reich-Ranicki ein Manuskript Rühmkorfs nicht druckt, weil der Text zu lang sei, reagiert der überaus empfindlich. Es handelt sich um ein Gedicht Arno Schmidts, und Rühmkorf mutmaßt, der als links geltende Autor sei der konservativen FAZ nicht genehm.

«Nicht in der Länge liegt hier die Enge, sondern in der merklich geschrumpften Brust der FAZ», betont Rühmkorf. «Die hat nicht mehr die schöne pluralistische Breite von anno 76–80. Machen wir uns nichts vor und fassen Ihre Schwierigkeiten ins Auge. Der Wind, wir wissen es, hat sich gedreht, der Trend sich gewendet, und die geliebt-gelobten Fuffziger sind (wo auch nicht als Schwung der Räder, Vormarsch der Förderbänder), so doch als ideologischer Stickmief, richtig hübsch wieder real geworden.»

Gekränkt und verletzt zeigt sich danach der Zeitungsmann: «Ihr Brief ist töricht.» Immer wieder kommt es zu kleineren Streitigkeiten. So auch, als Reich-Ranicki 1986 Rühmkorfs Gedicht «So müde, matt, kapude» nicht druckt, da es unverständlich sei. Worauf der Dichter von der Entstehung der Verse berichtet, um diese zu erklären.

Geschwätz Als er den Schoa-Film von Claude Lanzmann gesehen habe – vielmehr die Herren Helmut Kohl und Manfred Wörner in der Tagesschau danach –, da seien ihm die Parallelen vor Augen getreten: «Es war genau das nämliche gnadenlose Geschwätz, wie ich es eben von den KZ-Kommandanten und Kapos und Sonderzugführern und Begleitpersonen gehört hatte, schmierig, wendig, populistisch-positiv (Ein Optimismus, der im Zweifelsfall über Leichen geht).»

Zum zeitweisen Bruch kommt es, als Reich-Ranicki den Roman Ein weites Feld von Günter Grass im Literarischen Quartett gnadenlos verreißt. Rühmkorf spricht vom «autoritären Niederschreien eines schwierigen Buches», wirft dem Kritiker vor, er habe Grass «in die Nähe von Joseph Goebbels» gerückt, und bricht den Kontakt für vier Jahre ab.

Erst nach dem Erscheinen von Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben 1999 bietet er die Friedenspfeife an. Diesmal ist der Kritiker beleidigt und schlägt einen Deal vor: Nur, wenn Rühmkorf etwas über Mein Leben schreibe – «nicht unbedingt liebevoll, doch respektvoll» –, wolle er «nicht etwa vergessen, doch immerhin verdrängen», was dieser ihm angetan habe.

Marcel Reich Ranicki/Peter Rühmkorf: «Der Briefwechsel». Wallstein, Göttingen 2015, 336 S., 22,90 €

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