Dokumentation

»Unermüdlich, unbeirrbar und unvergleichlich«

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte gestern in Düsseldorf die Trägerin des Heine-Preises, Rachel Salamander. Foto: imago images/Oliver Langel

Die Liste der Persönlichkeiten, die in nun bald fünfzig Jahren mit dem Heine-Preis der Stadt Düsseldorf ausgezeichnet wurden, ist beeindruckend, geradezu ehrfurchtgebietend: Carl Zuckmayer, der erste Preisträger, oder etwa Richard von Weizsäcker oder Hans Magnus Enzensberger oder Jürgen Habermas. Zu dieser wahrhaftig illustren Reihe zählen wir jetzt auch Rachel Salamander – mit einem Lebenswerk, das in diese Reihe gehört und das wir heute durch diese Preisvergabe zu Recht ehren und feiern können.

Rachel Salamander war und ist eine der bedeutendsten Ermöglicherinnen des deutschen Geisteslebens der letzten Jahrzehnte. Ihr erfolgreiches Wirken besteht vor allem darin, dass sie bei allem, was sie tut, nie ihre eigene Person in den Mittelpunkt stellt, sondern immer andere zur Wirkung bringt.

Liebe Rachel Salamander, Sie haben uns alle, die wir am kulturellen und am geistigen Leben interessiert sind, auf eine Weise beschenkt, wie wohl nur Sie es vermochten. Ihre Leidenschaft, Ihr Charme, Ihre Energie genauso wie Ihre Begabung zur Freundschaft, Ihre intellektuelle Neugier und Ihr Organisationstalent haben uns Zugänge zur literarischen Welt, Zugänge zu Autoren und Büchern, Zugänge zu Denk- und Empfindungswelten geschenkt, die wir ohne Sie nicht gefunden hätten. Die literarische Welt ist Ihre Welt. Und dass auch für möglichst viele andere diese »literarische Welt« begehbar und bewohnbar wird, dafür haben Sie sich nicht nur als langjährige Redakteurin der gleichnamigen Literaturbeilage eingesetzt.

Rachel Salamander ist auf ihre sehr besondere Art eine gegenwärtige Verkörperung jener Ermöglicher, jener inspirierten Inspirateure, denen Bertolt Brecht in seinem berühmten Gedicht »Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration« ein Denkmal gesetzt hat: Ein Zollbeamter, der sich interessierte für die Weisheit des Weisen, der da über die Grenze wollte, ließ sie einem Kinde diktieren, so dass schließlich ein Buch entstand, das für alle Zukunft von jedermann gelesen werden kann. Brecht schließt bekanntlich:

»Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.«

In exemplarischer Weise hat Rachel Salamander einem der bedeutendsten Gelehrten des vergangenen Jahrhunderts seine Weisheit abverlangt, oder besser: seinen Weg zu dieser Weisheit, nämlich die Geschichte seines Lebens und Denkens, seiner Begegnungen und Erkenntnisse und damit einer ganzen Kultur.

Ich spreche von Hans Jonas, den alle als Verfasser des »Prinzip Verantwortung« kennen. Rachel Salamander brachte, gemeinsam mit ihrem Mann Stephan Sattler, den weit über Achtzigjährigen endlich doch dazu, ihr noch einmal sein Leben zu erzählen. So konnte es auf Tonband aufgezeichnet und verschriftlicht werden.

Ohne ihre Geduld und Zähigkeit, ohne ihre Freundlichkeit und Hingabe hätten wir sie nicht, die wunderbaren Lebenserinnerungen von Hans Jonas. Diese Erinnerungen des großen Philosophen lassen noch einmal jene unvergleichliche und unwiederbringliche Welt einer deutschen und jüdischen Kultur lebendig werden, deren Fülle und Reichtum wie aber auch deren Zerstörung. »Darum sei der Zöllner auch bedankt« – wenn Rachel Salamander nur dieses Buch ermöglicht hätte, sie hätte jeden Preis verdient.

In ihrem Vorwort erzählt sie wie beiläufig von der Kultur, die Hans Jonas geprägt hat, und gibt dabei auch einen Blick frei auf das, was sie selber ihr Leben lang fasziniert hat und ihr Wirken bis heute inspiriert und motiviert: »Wie in den kultivierten Vorkriegsgesellschaften üblich, beherrschte der jüdische Junge aus gutem Hause die Verse Goethes und Schillers in- und auswendig, seinen Heine ebenso. Hans Jonas sollte in den uns verbliebenen Jahren bis zu seinem Tod so manche gemeinsame Abendgesellschaft mit dem in seinem Gedächtnis gespeicherten deutschen Bildungsgut faszinieren.«

Hier, in der Geschichte von Hans Jonas, ist sie noch einmal plastisch und wie mit Händen zu greifen: die große Leidenschaft der deutschen Juden für die Kultur – und der unersetzliche Beitrag der Juden zu ebendieser deutschen Kultur. Wir wissen, wie früh die deutschen Juden von sogenannten nationalen Autoren zu Fremden erklärt wurden, mit welchem Gift die Antisemiten über Generationen zu Werke gingen, wie brutal das alles dann zerstört wurde. Und wir wissen, wie all die bedeutenden Repräsentanten jüdischer Kultur verfolgt und vertrieben wurden und wie auf diese Weise Deutschland insgesamt ein nie wiedergutzumachender Verlust zugefügt wurde.

Rachel Salamander war und ist von dieser Kultur und ihren Repräsentanten so fasziniert, dass sie ihr Leben der immer neuen Vergegenwärtigung jüdischer Kultur, der Literatur vor allem, gewidmet hat. Sie ist – und deswegen hinkt der Vergleich zum Brecht-Gedicht ein wenig – keineswegs ein Zöllner, der aufpasst, dass nichts unerlaubt über Grenzen geschmuggelt wird. Im Gegenteil: Sie ist diejenige, die keinen Schlagbaum und keine Grenze zwischen Kulturen anerkennt. Sie hat sie vielmehr immer wieder geöffnet und hält sie offen. Sie ist, im Fall des Falles, auch eine geübte und raffinierte Schmugglerin, die dafür sorgt, dass unbekannte Konterbande über Grenzen gelangt: geistige Neuheiten oder vergessenes, verdrängtes geistiges Erbe.

Es ist eine Konterbande des Geistes – ein bisschen so wie in Heinrich Heines »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Dort beschreibt er im »Caput II«, wie er von »preußischen Douaniers« beim Übertritt der Grenze gefilzt wird:

»Beschnüffelten alles, kramten herum
In Hemden, Hosen, Schnupftüchern;
Sie suchten nach Spitzen, nach Bijouterien,
Auch nach verbotenen Büchern.

Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!
Hier werdet ihr nichts entdecken!
Die Konterbande, die mit mir reist,
Die hab ich im Kopfe stecken. […]

Und viele Bücher trag ich im Kopf!
Ich darf es euch versichern,
Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest
Von konfiszierlichen Büchern.«

Mit der Gründung ihrer Literaturhandlung in München hat Rachel Salamander sozusagen einen offiziellen Handelsplatz für eine ganz besondere, für diese kostbare und fast verschwundene Schmuggelware eröffnet. Sie selber sagt dazu: »Fast fünfzig Jahre nach der Entjudung des deutschen Buchhandels wollte ich mit der Errichtung einer Fachbuchhandlung für Literatur zum Judentum zumindest die geistige jüdische Welt rekonstruieren helfen, alles zusammentragen, was das Wort und die Schrift aufbewahrt hatten, und all jene wieder einbürgern, die vertrieben und verbrannt worden waren.«

Ihr Kopf war und ist mindestens so sehr »ein zwitscherndes Vogelnest« von Büchern und Literatur wie der Kopf des Wintermärchen-Dichters. Unermüdlich vermittelt sie, unermüdlich bringt sie Menschen miteinander ins Gespräch, bringt sie Menschen zu Büchern und Bücher zu Menschen. Dass Vermittlung selbst schon eine eminent kulturelle Handlung ist, wo wäre das besser zu erkennen als an Rachel Salamander? Rachel Salamander hat nicht nur eine Literaturhandlung gegründet. Viel richtiger müssen wir sagen: Ihr ganzes Leben und Wirken ist – Literaturhandlung.

Und noch ein Wort muss, wenn wir an Rachel Salamander denken, in seiner ganzen Bedeutungsfülle genommen werden: Geistesgegenwart. Einmal ist sie selber durch ihre intellektuelle Wachheit und durch ihre Fähigkeit, in scheinbar weit Auseinanderliegendem Verbindungen zu erkennen, geistesgegenwärtig. Vor allem aber hat geistige Beschäftigung für sie überhaupt nur einen Sinn, wenn sie für die Gegenwart, für das Hier und Heute des Denkens und Lebens Bedeutung hat.

Unermüdlich, unbeirrbar, aber vor allem auch unvergleichlich hält sie so ein ganz besonderes Erbe jüdischer Kultur lebendig. Frank Schirrmacher hat es in einer sehr persönlichen Laudatio zur Verleihung des Marbacher Schillerpreises so benannt: »Sie verkörpert auch, und das ist im Deutschland des Jahres 2013 eine wirkliche Rarität, die wunderbare Vorkriegsmischung aus Kaffeehaus, Philosophenklub und Weltbühne, die kommunikative Welt der Joseph Roth und [Friedrich] Torberg und Elias Canetti, eine Welt, die nur in den Augen von Ignoranten unproduktiv ist.«

Wenn Frank Schirrmacher dann über sie sagt, »sie sammelt Anregungen und Inspirationen wie Treibstoff«, dann sind wir mit diesem letzten Wort, Treibstoff, bei einem amüsanten, aber treffenden Bild, das Walter Benjamin in ganz anderem Zusammenhang benutzt hat. Es passt sehr gut zu Rachel Salamanders oft verborgenem, aber effektivem Wirken im sogenannten Literaturbetrieb: »Man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muss.«

Diese Fähigkeit, an den richtigen Stellen das Richtige zu veranlassen oder anzuregen, die Fähigkeit, zur richtigen Zeit die richtigen Leute am richtigen Ort miteinander zu verbinden – diese Fähigkeit macht Rachel Salamander und ihre Wirkung immer wieder aus. Ausgerechnet sie, müssen wir hinzufügen, die im Lager für Displaced Persons geboren wurde und sich lange Jahre als »displaced«, als deplatziert in diesem Deutschland nach dem Krieg vorkommen musste, während Täter und Mitläufer längst schon wieder einen anerkannten Platz in der Gesellschaft eingenommen hatten.

»Ich bekam keine Heimat, die durch Geburt entstanden wäre. Dieser Status lautete amtlich: heimatloser Ausländer. Er sollte über vierzig Jahre dauern, bis die bundesdeutschen Behörden ein unbürokratisches Angebot zur Einbürgerung an die DP‹s hätten.«

Ausgerechnet sie also, Rachel Salamander, heimatlose Ausländerin, die nur Jiddisch und kein Wort Deutsch sprach, als sie in die Volksschule kam, ausgerechnet sie hat uns in Deutschland Türen geöffnet in die Welt der deutschen jüdischen Kultur – die wir als einen Teil unserer verlorenen Heimat, unserer gemeinsamen geistigen und kulturellen Herkunft erkennen und wiederentdecken konnten.

Sie selber, so erzählt sie, habe eine Ahnung vom Dazugehören zum ersten Mal an Weihnachten bekommen: »Ich war keine sechs Jahre alt, da habe ich, das jüdische Kind aus dem DP-Lager Föhrenwald, die große Reise nach Wolfratshausen unternommen, um dort zu Weihnachten vor deutschem Publikum Händels Adagio auf der Geige zu spielen. Heute weiß ich, dass da mein Weg in die bundesrepublikanische Gesellschaft begonnen hat.«

Es ist ergreifend zu sehen, wie hier ein langer Weg zurückgelegt werden muss in jene deutsch-jüdische Selbstverständlichkeit, wie sie der Berliner Jude Walter Benjamin in seiner Kindheit um neunzehnhundert noch ganz unbefangen erlebt hatte – und zwar auch am christlichen Weihnachtsfest: »In den Höfen begannen die Leierkasten die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen […] In meinem Zimmer wartete ich, bis es sechs werden wollte. Kein Fest des späteren Lebens kennt diese Stunde, die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert.«

Welch ein Abgrund von Barbarei und Zerstörung – einer von Christen begangenen Zerstörung! – liegt zwischen diesen beiden kindlichen Weihnachtserinnerungen. Welch ein Abgrund zwischen einer alten deutsch-jüdischen Selbstverständlichkeit und einer vorsichtig neu zu entdeckenden, neu zu erringenden, die eben alles andere als selbstverständlich ist – eigentlich kaum vorstellbar.

Erst wenn wir uns diesen Abgrund vor Augen führen, können wir ermessen, was wir Rachel Salamander und ihrem Wirken zu verdanken haben. Die »jüdische Welt von gestern«, die sie uns vorgestellt hat, ist keine fremde Welt, sie ist unsere gemeinsame Herkunft, unsere gemeinsame Heimat.

Wer diese gemeinsame Heimat immer neu und wieder entdecken will, der kann mit Rachel Salamander auf die Kopfreisen gehen zu den großen Namen, die sie, in jeder Hinsicht, vorrätig hält: zu Gabriele Tergit und der großbürgerlich-jüdischen Welt ihrer »Effingers«, zu Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, zu Paul Celan und Else Lasker-Schüler, zu Walter Benjamin und Sigmund Freud, zu Franz Rosenzweig und Martin Buber, zu Gershom Scholem und Hannah Arendt, zu Marcel Reich-Ranicki und Norbert Elias, zu Hans Sahl und Ilse Aichinger, zu Billy Wilder und Paul Abraham, zu Hans Jonas, Nelly Sachs und Siegfried Kracauer.

Wir könnten noch lange fortfahren – und hätten jene noch gar nicht genannt, die, wie etwa Franz Kafka, das Grauen nicht mehr erleben mussten, und jene nicht, die nun in unserer Gegenwart jüdische Kultur in Deutschland leben. In unserer Gegenwart, in der wir wieder Antisemitismus erleben müssen – und auch im kulturellen Bereich einen oft als vordergründige Israelkritik verkappten Antisemitismus. Und so kennt unsere Gegenwart auch wieder die fürchterliche Unsicherheit und Fassungslosigkeit der jüdischen Gemeinschaft angesichts der Erscheinungsformen eines aktuellen Hasses. Die Erschütterung darüber muss uns alle erfassen, nur dann kann sie uns alle verbinden. Wir sind verpflichtet zur Gegenwehr – nicht nur jeder für sich, sondern wir miteinander und füreinander!

Rachel Salamander, die Deplatzierte, die sich selber die richtigen Orte ihres Lebens gesucht und so etwas wie Heimat gefunden hat, versteht ihr Wirken selber ja nicht nur in der Vergewisserung des kostbaren Erbes. Heimat ist auch der Ort, an dem man sich einmischt in die konkreten Verhältnisse. Heimat ist auch der Ort, an dem man jede Form von Rassismus und Antisemitismus bekämpft. Heimat ist auch der Ort, an dem man anerkennt, dass andere ganz anders sein mögen, aber die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben.

Liebe Rachel Salamander, wir ehren Sie heute mit dem Heine-Preis. Wir wissen aber auch: Wir ehren Sie noch viel mehr, wenn wir die deutsch-jüdische Kultur nicht nur als Teil unserer Vergangenheit, sondern als Teil unserer Gegenwart und unserer Zukunft begreifen – so wie Sie.

Lesen Sie mehr zu der Ehrung in der kommenden Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen.

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