Schon sehr früh hatte Franz Kafka das Gefühl, anders zu sein als die meisten Menschen seiner Umgebung – auch in seinem erotischen Begehren. Mit dieser Vermutung beginnt Saul Friedländer seinen Essay über Kafka und weckt die Neugier der Leser, die glauben, alles sei bereits über den Jahrhundertschriftsteller gesagt.
Gelehrte Köpfe haben winzige Details in Kafkas Leben aufgespürt, die in seinem literarischen und philosophischen Denken eine Rolle gespielt haben könnten, doch haben sie nicht etwas übersehen – Kafkas Scham- und Schuldgefühl, das zu verstehen Rätsel aufgibt? Vielleicht bedurfte es eines jenseits der Kafka-Forschung stehenden, weltweit anerkannten Historikers, um eine ganz andere, tiefgründige und düstere Seite Kafkas aufzublättern.
Der Holocaustforscher Saul Friedländer ist von jung an Kafka-Leser. Sein biografischer Essay liegt nun vor, elegant und souverän wie stets geschrieben, sich selbst zum 80. Geburtstag am 11. Oktober beschenkend. Er behandelt Kafkas Verhältnis zu Liebe, Sexualität und Judentum sowie seine spezifische Ironie kenntnisreich und in feinfühligem Ton.
Der private Kafka offenbart in seinen Briefen und Tagebüchern eine klandestine Not, die unübersehbar sexueller Natur war. Etwas quälte ihn, und daraus erwuchsen ihm Schuldgefühle – und metaphysische Angst. Was meinte er, als er 1920 seiner Freundin Milena Jesenská die merkwürdigen Zeilen schrieb: »Schmutzig bin ich, Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit. Niemand singt so rein, als die, welche in der tiefsten Hölle sind«?
Anspielungen Man muss Kafka genau lesen, um die sexuellen Anspielungen, oft metaphorisch verschlüsselt, zu bemerken; vieles bleibt im Reich der Fantasien, imaginierte sexuelle Möglichkeiten. Schuld und Scham, auch Gewalt und Masochismus sind Chiffren zum Verständnis des Werkes.
Friedländer bewegt sich im Spekulativen, wenn er nach einer Erklärung für die erwähnten Zeilen an seine Vertraute sucht: Möglicherweise weise Kafka »verhüllt« darauf hin, dass er sich »sexuell zu Jugendlichen, ja zu Kindern hingezogen« fühlte. Doch das blieb, beeilt sich Friedländer hinzuzufügen, ebenso wie seine »homoerotischen Strebungen«, unausgelebt im Bereich der Fantasie.
Oder waren es »inzestuöse Strebungen« – gemeint ist die tiefe Zuneigung Kafkas zu seiner jüngeren Schwester Ottla –, die Friedländer als »heimliche(n) Subtext« in Kafkas Werk auszumachen glaubt, die den Bruder bedrückten? Sexuelle Selbstbehauptung war dem Sohn Franz verboten, vor allem, wenn es sich um verpönte Formen sexuellen Begehrens handelte, die der tyrannische Vater, Träger anerkannter Normen der bürgerlichen Konvention, niemals zugelassen hätte.
Friedländer kennt im Gesamtwerk Kafkas die »Stellen«, sowohl in dessen privaten Aufzeichnungen wie in den zur Veröffentlichung bestimmten Texten. Sein Blick ist jedoch nicht voyeuristisch, sondern analysierend, wissend, dass sie integraler Teil von Kafkas literarischem Schaffen sind. Kafka war, wie Friedländer sagt, der Dichter der Verwirrung.
Jüdischkeit Und wie war es um Kafkas Jüdischkeit bestellt? Väterlicherseits hatte er davon nicht allzu viel mitbekommen: Hermann Kafka wollte die mühsam errungene Assimilation bewahren. Dem aufbegehrenden Sohn erschien die Aufgabe seiner jüdischen Identität nicht akzeptabel, auch wenn es ihm an echter Verbindung zur Religion mangelte. Kafka litt am Judentum, ohne dass ihm je die Konversion in den Sinn gekommen wäre.
Dem Antisemitismus in seiner Umgebung stand er nicht teilnahmslos gegenüber. Als er bei judenfeindlichen Unruhen in Prag 1920 den Pöbel »räudige Rasse« brüllen hört, fragt er sich, ob es nicht selbstverständlich sei, von dort wegzugehen, wo man so gehasst werde. Selbst angesichts dieser Vorfälle wurde Kafka, anders als Max Brod behauptete, nie Zionist, auch wenn seine Einstellung zur jüdischen Nationalbewegung von distanzierter Sympathie gekennzeichnet war. An Grete Bloch schrieb Kafka: »Ich bewundere den Zionismus und ekle mich vor ihm.«
Allem Zweifel zum Trotz, stellt Friedländer apodiktisch fest, fühlte sich Kafka bis ins Mark als Jude. Kafkas Studium von Bibel und Talmud war Nahrung für seine »ausgehungerte jüdische Seele«. Kafka selbst fühlte sich einem »nichtgläubigen Judentum« zugehörig. Und so war es nur konsequent, dass er sein ganzes knapp 42-jähriges Leben in einem überwiegend jüdischen Milieu verbrachte, ohne je das Bedürfnis zu hegen, es hinter sich zu lassen.
Friedländer hat nicht das letzte Geheimnis um Kafka enthüllt. Das war wohl auch nicht seine Absicht. Kafka bleibt, was er ist und wohl immer sein wird, geheimnisvoll und rätselhaft. Friedländer hat ein Geheimtürchen in Kafkas Universum aufgemacht, und in der Ferne sieht man schon die nächste Tür, unerreichbar fern.
Saul Friedländer:
»Franz Kafka«. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C.H. Beck, München 2012, 252 S., 19,95 €