Fährt man von Tel Aviv nach Jerusalem, grüßen stumm am Ortseingang die Toten. Oberhalb der Straße erstreckt sich ein riesiger Friedhof, der ebenso unaufhörlich wächst wie die Siedlungen an anderen Rändern der Stadt. Seit 2001 nicke ich hinauf und sage »Servus Moidi«. »Moidi«, das war der Kosename der Schriftstellerin Anna Maria Jokl, eingeschrieben auch in ihren Grabstein am Hang des Har ha Menuhot. Das Kindermädchen in Wien, wo Anna Maria Jokl am 23. Januar 1911 geboren wurde, hatte sie so gerufen. Wien, Berlin, Prag, London, Zürich, Ostberlin, Westberlin, Jerusalem. Das waren die Stationen eines Weges, der geprägt war von Abbrüchen und Neuanfängen. Gewähltes Ziel war allein Israel, »in historischer Konsequenz«. Und wie Jehoshua Bin Nun, über den sie einen erhellenden Essay schrieb, erreichte sie das Land tatsächlich – als letzte Station ihres bewegten Lebens.
jahrhundertzeugin »Sechs Leben an jeweiligen Brennpunkten unserer Epoche« hat Anna Maria Jokl geführt. Begonnen unter der Regentschaft des Kaisers Franz Joseph und beendet unter der Regierung Ariel Scharon. Man kann sich vorstellen, was dazwischen an Erfahrungen liegt. »In mir sind ja die ganzen geologischen Schichten der europäischen Geschichte«, sagte sie mir einmal, »die ganzen Veränderungen, wo Völker und Länder zugrunde gingen und völlig neue Gruppierungen entstanden. Ich bin geboren noch knapp vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Ich erinnere mich genau an den Erker in unserer Wiener Wohnung, wo ich als halbes Kind stand und aus dem ersten Radioapparat hörte, dass Lindbergh über den Ozean geflogen ist … Ich habe miterlebt das Kommen von Hitler in Deutschland, ich habe miterlebt Prag, das Zugrundegehen des wunderbaren Prag, den Einmarsch der Deutschen 1939, das Ende der Republik. Miterlebt den Zweiten Weltkrieg mit zum Schluss fliegenden Bomben.«
Und auch die Tücken des Kalten Krieges danach, Ausweisung, Verleumdungen. Die »Bosheit« eines C.G. Jung, an dessen Institut sie sich zur Psychoanalytikerin ausbildet und der sie, die Jüdin, durch die Prüfung rasseln lässt. Miterlebt hat sie den Sechs-Tage-Krieg in Jerusalem, die Vereinigung der Stadt, den Besuch Sadats, die Ermordung Rabins, Bibi, den sie nicht mochte, der ihr Nachbar war in der Balfourstraße. Sein Wachpersonal bezog oft Posten auf dem Dach des Hauses, in dem sie am Rand von Rehavia wohnte.
Obwohl es eine »ungewöhnliche Anhäufung krasser Veränderungen – kometenhafte Verwirklichungen wie blitzartige Vereitelungen, unterbrochen von unbeweglichen Einöden«– in ihrem Leben gegeben hatte, war Anna Maria Jokl nicht ängstlich. Ihre mehrfach erlittene Entwurzelung empfand sie schließlich als Freiheit. Sie begann von vorne, war immer kreativ, den Blick auf Zukünftiges gerichtet. Stets dabei, als »ständiger, angenehmer Begleiter«, die Zigarette. Jokl rauchte leidenschaftlich und graziös. »Eine Packung passt immer in eine Tasche.« In Phasen der der Erschöpfung oder Depression, war sie sich selbst der stärkste Halt. Verletzlich, doch nie verbittert. Sie legte Wert auf Umgangsformen, ohne steif zu sein. War diskret, doch den Menschen zugewandt. Unerbittlich im ethisch-moralischen Anspruch – und konnte sich gleichzeitig begeistert über Sumo-Ringen, Wrestling und Talk-Shows auslassen.
perlmutterfarbe Nach ihrer Wiederentdeckung als Autorin in den 90er-Jahren, ist schnell klar, wie viel sie in Gang gesetzt, wie eigenständig sie gedacht und gearbeitet hat: Als junges Mädchen Schauspielausbildung an der Piscatorschule in Berlin. Experimente mit Sprache, freies Sprechen vor dem Mikrofon, Lesungen in Gefängnissen, Hörspiele, Aufsätze, Drehbücher. Nach 1933, im Prager Exil, schreibt sie Kinderbücher. 1938 Die Perlmutterfarbe – ein Kinderroman für fast alle Leute, jenes Buch, das ihren Ruhm bis heute begründet. Entstanden aus den Erfahrungen des deutschen Totalitarismus, gültig überall, nimmt es Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und Psychologie vorweg.
Als die Wehrmacht in Prag einmarschiert, flieht sie nach London, leitet ein Kinderheim, schreibt Revuen für das Exil-Kabarett. 1950 zurück in Berlin arbeitet sie als Psychotherapeutin und erkennt, Jahrzehnte vor dem israelischen Psychologen Dan Bar-On, als erste die parallele Schädigung von Opfer-und Täterkindern durch den Nationalsozialismus. Sie entdeckt den legendären Schoa-Text Jossel Rackower spricht zu Gott, übersetzt ihn, macht ihn öffentlich. Sie freundet sich mit Martin Buber an, der sie bewegt, nach Israel zu kommen. Im Alter von vierundfünfzig macht sie Alija und lernt Hebräisch, was ihr, der Sprachbegabten, Herausforderung ist und schließlich glückliches Gelingen wird. Ein Jahrhundertmensch war sie. Servus Moidi!
Zum 100. Geburtstag von Anna Maria Jokl sind vor wenigen Wochen Schriften aus ihren Nachlass erscheinen: »Aus sechs Leben«, Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2010, 368 S., 22,90 €