Als Matilda Aseo in den 50er-Jahren aus dem Istanbuler Gefängnis entlassen wird, geht sie auf direktem Wege zum Haus von Monsieur Davit. An der Eingangstür berührt ihre Hand fast reflexhaft erst die Mesusa und dann ihre Lippen. Im Haus von Monsieur Davit wird ganz selbstverständlich Ladino gesprochen. Matilda will nach Israel, entscheidet sich dann aber um, als sie merkt, dass ihre fast erwachsene Tochter Rasel ihre Hilfe braucht.
Das, in kurzen Sätzen, ist der Beginn der türkischen Erfolgsserie Kulüp (Der Club), die seit Kurzem bei Netflix läuft. Man braucht einen Moment, um das zu begreifen: Die Serie erzählt die Geschichte der türkischen Jüdin Matilda, ihrer Tochter Rasel und ein bisschen auch von Israel – ganz ohne Vorurteile oder Stereotype. Keine Selbstverständlichkeit im türkischen Fernsehen.
BELASTUNGSPROBE Erst vor wenigen Wochen hat das Verhältnis zwischen der Türkei und Israel eine weitere Belastungsprobe durchgemacht, als in Istanbul zwei israelische Touristen festgenommen wurden, die den Palast von Staatsoberhaupt Erdogan fotografiert hatten. Wegen Verdachts der Spionage wurden die beiden ganze acht Tage lang festgehalten.
Das Verhältnis der beiden Länder kann mittlerweile nur mit viel Großzügigkeit als »angespannt« bezeichnet werden, eigentlich ist es zerrüttet. Dass die Verhandlungen, um die zwei Israelis aus dem türkischen Gefängnis herauszubekommen, so kompliziert waren, lag auch daran, dass beide Staaten keine Botschaften mehr in dem jeweils anderen Land unterhalten.
In Ansätzen zeigt die Serie, warum Juden aus muslimischen Ländern nach Israel flüchteten.
Und auch wenn die etwa 15.000 Juden, die heute noch in der Türkei leben, natürlich nicht unbedingt etwas mit Israel am Hut haben müssen – bezeichnend für das Verhältnis der Türkei zu seiner jüdischen Bevölkerung ist es schon, wenn die Beziehungen zu Israel kontinuierlich aufs Äußerste strapaziert werden.
Antisemitismus spielt auch bei Kulüp eine Rolle. Da ist der muslimische Mitarbeiter, der den jüdischen Chef verrät (Matildas Vater); der muslimische Chef von Matilda, der sie zur Strafe am Schabbat arbeiten lässt; und der muslimische Liebhaber von Rasel, der ihr eine Ohrfeige verpasst, als sie ihm gesteht, dass sie Jüdin ist. Das alles passiert in hoch emotionalen Bildern, die sich um den Nachtclub und das Istanbuler Viertel Galata drehen, das zu dieser Zeit Heimat vieler türkischer Juden war.
Aber die Geschichte, die in Kulüp erzählt wird, macht auch deutlich, dass sich die Politik der türkischen Regierung der 50er-Jahre nicht nur gegen Juden, sondern gegen Minderheiten generell richtete. Wenn der Clubdirektor von einem staatlichen Mitarbeiter aufgefordert wird, sämtliche Nicht-Muslime in seinem Laden zu entlassen, darunter Griechen, Armenier und eben eine Handvoll sefardischer Juden, dann ist klar, dass der Wind nicht nur für Juden rau wehte in einer nationalistischer und religiöser werdenden Türkei.
Diese schonungslose Ehrlichkeit in der Geschichte, die die Drehbuchautoren Necati Sahin und Rana Denizer erzählen, funktioniert bei Kulüp durchweg. Daneben werden auch sefardisch-jüdische Bräuche gezeigt. So wird ein echter Einblick in eine Welt gewährt, die bisher nicht – oder kaum – im Fernsehen außerhalb Israels stattgefunden hat.
Necati Sahin lebt übrigens seit Jahrzehnten in Deutschland, wo er unter anderem ein Theater in Köln leitet. Und natürlich fragt man sich, ob es die deutsche Beschäftigung mit dem Judentum ist, die ihn dazu ermutigt hat, auch in der Türkei einmal dieses Thema aufzunehmen.
EMOTIONAL Unter der Regiearbeit von Seren Yüce and Zeynep Günay Tan ist auf jeden Fall eine höchst emotionale Serie mit großartigen Schauspielern entstanden. Manchmal etwas zu kitschig und mit etwas zu viel Pathos, die Musik zu oft und zu dramatisch geraten, die Figuren zu naiv und zu entsetzt, aber trotzdem fast immer sehr berührend.
Während es bei Netflix mit Shtisel bereits eine höchst erfolgreiche Serie über eine andere, sehr spezielle jüdische Minderheit gibt, nämlich die der ultraorthodoxen Aschkenasen, erzählt Kulüp endlich einmal die Geschichte sefardischer Juden. Die Serie zeigt zumindest in Ansätzen, dass viele von ihnen nach Israel geflüchtet sind, weil sie als Juden in muslimischen Ländern nicht mehr leben konnten.
Kulüp zeigt aber insgesamt, und das soll hier gar nicht unter den Tisch fallen, das Leben all derjenigen, die anders dachten als die Mehrheit in der Türkei der 50er-Jahre.
Drehbuchautor Necati Sahin lebt in Deutschland und leitet ein Theater in Köln.
Es zeigt queere Menschen, es zeigt diejenigen, die sich gegen traditionelle Familienkonzepte wehren. Das ist immer noch brandaktuell, nicht nur in der Türkei, weswegen der Stoff auch heutzutage hervorragend funktioniert.
Und so ist nicht nur Matilda extrem berührt, wenn der Sänger des Clubs, Selim Songür, ein offensichtlich schwuler Mann, verstoßen von seiner Familie, zum ersten Mal auf der Bühne singt: »Ich bin auch Herzschmerz/Genau wie du/Ich habe gelebt/Ich habe mich gesehnt/Und ich bin/mein eigenes Märchen./Ich passte nie und passe immer noch nicht/in diese Welt/Ich bin hier/aber mein Herz ist im Land der Giganten.«
Dass uns Kulüp an all diesen Leben, all diesen Gefühlen teilhaben lässt, ist die eigentliche Stärke der Serie.