Debatte

Seitenweise Meinung

Wer mitreden will, muss lesen. Foto: AP

Fast keine Fotografien und Abbildungen, dafür umso längere Texte: Die neue Jewish Review of Books ignoriert den Zeitgeist scheinbar auf der ganzen Linie. Der Chefredakteur des Magazins, Abe Socher, hat ein Blatt konzipiert, das extrem textlastig vierteljährlich umfassend über neue jüdische Literatur informieren soll. Vor Kurzem ist in den USA die erste Ausgabe erschienen.

Ist dieser nüchterne und sachliche Stil die richtige Wahl für ein jüdisches Nischenprodukt, das im besten Fall mit einer Leserschaft von 60.000 möglichen Abonnenten rechnen kann? Wohl kaum, wenn man die erfolgreiche Zeitschrift »Heeb« vor Augen hat, die Amerikas hippe Juden regelmäßig mit Witz und Satire versorgt.

Aber was ist heute schon charakteristisch für die jüdischen Intellektuellen zwischen New York und Los Angeles? Bereits Monate vor dem Erscheinungstermin tobte eine heftige Debatte um die Jewish Review of Books (JRB). Denn fast alle jüdischen US-Magazine spüren empfindlich die Folgen der Zeitungskrise. Und nun sollte noch ein Sorgenkind dazukommen.

SELBSTVERSTÄNDNIS Außerdem ist die JRB ein Blatt, das sich keine eindeutige politische Ausrichtung auf die Fahne schreiben will. In der ersten Ausgabe grübelt Schlomo Avineri über die Grenzen der US-Macht im Mittleren Osten. Professor Allan Arkush analysiert die religiöse Debatte um Theodor Herzls Israelbild am Beispiel von dessen Hauptkritiker Achad Ha’am. Man liest über den zweifelhaften Versuch, Bob Dylan als jüdischen Propheten zu reklamieren sowie von der prekären Lage des US-Reformjudentums.

Skeptiker wie der Journalist Josh Nathan-Kazis fragten sich schon vorab, ob das Ganze nicht eher eine nostalgische Übung sei. Denn Magazine wie die JRB haben ihre Leserschaft im Grunde längst verloren. Vergessen sind die Zeiten, als die Juden Amerikas die neueste Ausgabe der »Commentary« aus dem Briefkasten holten, um anschließend am Esstisch versammelt die Artikel mit der Familie hin und her zu diskutieren.

Gerade die Jewish Review of Books hilft zu verstehen, warum jene Tage ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Die mentale und intellektuelle Verfassung der jüdischen Nachkriegsgeneration, die die Schrecken des Holocaust überlebt hatte und zu neuen Ufern aufbrach, war ein historisch einmaliger Zustand. Nur vor diesem Hintergrund war die Realisierung und Publikation eines übergreifenden Meinungsblattes für alle möglich.

GEGENSÄTZE Schon die Grundkonstellation der JRB ist problematisch. Finanziert wird das Blatt von der konservativen Tikvah Foundation, an deren Spitze der Neokonservative William Kristol steht. Im »Editorial Board« sitzen aber auch Liberale wie Leon Wieseltier und Michael Walzer vom »Dissent«. Unter diesen Gegebenheiten sollte die Jewish Review of Books zum Blatt für die jüdische Mitte heranwachsen. Aber Woody Allen witzelte bereits: Wenn der immer rechtslastiger gewordene »Commentary« dereinst mit seinem Kritiker »Dissent« fusionieren sollte, käme dabei wohl nur »Dysentery« heraus: ein ziemlich krankes Kind.

Chefredakteur Socher, der auch Professor für Judaistik ist, hält dennoch daran fest, dass es ein jüdisches »Forum« geben muss, das nicht gleich von vornherein auf Polemik aus ist. Ein hehrer Vorsatz, wenn man sich die bescheidene Mitarbeiterzahl vor Augen führt. So kommt es durchaus vor, dass die Bücher von manchem Kritiker sogar im eigenen Blatt besprochen werden.

ANREGEND Doch je länger man sich in die JRB vertieft, desto spannender wird es. Man liest über die Schattenseiten der nach außen hin erfolgreichen letzten Jahrzehnte und die Zweifel am Projekt des progressiven Judentums. Aus welchem Grund boomen die orthodoxen Gemeinden und warum wagt das Reformjudentum nicht mehr, seine Gemeindestatistik zu veröffentlichen? Was hat US-Präsident Barack Obama vom neuen Realismus der Veteranenberater verstanden und was nicht?

Manchmal kommt dem Leser so etwas wie das »bittere Gelechter« des Herzl-Kritikers Achad Ha’am in den Sinn, das Allan Arkush sich vorstellt, wenn jener die jüdische Welt von heute differenziert betrachten könnte. »Gelechter«, weil er nur allzu häufig recht behalten hat. »Bitter«, weil man sich nicht wirklich darüber freuen mag.

Derart widersprüchlich beginnt die Jewish Review of Books als liberales Meinungsblatt Amerikas, dem nur wenige im eigenen Land Chancen aufs Überleben einräumen. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient das Magazin.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

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Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025