Theodor Herzl notierte 1902 in sein Tagebuch: »Die Stunden … verkürzte mir Hess mit seinem ›Rom u. Jerusalem‹, das ich 1898 in Jerusalem zum erstenmale zu lesen begonnen, aber in Drang u. Hast dieser Jahre nie hatte ordentlich zu Ende lesen können. Nun ward ich von ihm entzückt u. erhoben. Welch ein hoher edler Geist. Alles, was wir versuchten, steht schon bei ihm. ... Seit Spinoza hat das Judentum keinen größeren Geist hervorgebracht als diesen vergessenen verblassten Moses Hess!«
Sehr spät, da hatte er bereits seinen Judenstaat publiziert, räumte Herzl ein, die Hess’sche Schrift gar nicht gekannt zu haben, als er seine zionistischen Ideen zu propagieren begann. Moses Hess, am 21. Januar 1812 geboren, war ein philosophischer, politischer und naturwissenschaftlicher Schriftsteller und Publizist. Rechtzeitig zu Hess’ 140. Geburtstag hat Volker Weiß einen gut lesbaren, grundsoliden und informativen Lebensbericht vorgelegt.
Kommunistenrabbi Hess stammte aus einem frommen Elternhaus und genoss eine gründliche jüdische Erziehung, die wohl so schmerzhaft war, dass er rückblickend in sein Tagebuch schrieb: »In der Bonner Judengasse geboren und erzogen; bis in mein fünfzehntes Jahr über den Talmud schwarz und blau geschlagen.« Mit 16 hatte er genug, er löste sich vom orthodoxen Judentum. Hess, als »Kommunistenrabbi Moses« verschrien, bekehrte Engels und Marx zum Kommunismus, wurde jedoch von den beiden bald erbittert bekämpft. Für Hess war der Sozialismus die höchste Religion, aber zugleich die höchste Wissenschaft. Dennoch: Ein »wahrer« Marxist ist Hess nie geworden.
Mit dem Anschluss an die lassalleanische Arbeiterbewegung entfremdete Hess sich zugleich von der marxistischen Richtung des Sozialismus. Dies auch insofern, als er im Jahre 1862 seine Schrift Rom und Jerusalem – Die letzte Nationalitätenfrage veröffentlichte. Damit wurde Hess zum Begründer und Gestalter der modernen jüdischen Nationalbewegung. Bis das Wort Zionismus in die Welt gesetzt wurde, mussten jedoch noch fast 30 Jahre vergehen.
Emanzipation In Hess begegnen wir zum ersten Mal jener Mischung aus »ethischem Sozialismus und aufgeklärtem Nationalismus«, die in der künftigen Entwicklung des Zionismus eine große Rolle spielen sollte. Seinen Wandel vom revolutionären kosmopolitischen Sozialisten zum Zionisten beschrieb er so: »Da steh’ ich wieder nach einer zwanzigjährigen Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Anteil an seinen Freuden- und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen.« Hess träumte zeitlebens von einer Synthese aus jüdischer Emanzipation und sozialistischer Revolution.
Hess war nicht allein ein Theoretiker, er dachte auch praktisch. Sobald die politischen Bedingungen die Wiederherstellung eines jüdischen Staates erlaubten, solle mit der Gründung jüdischer Siedlungen in Palästina begonnen werden, eine Forderung, die erst in der Herzl-Ära Gestalt annahm. Hess’ nationaljüdische Überlegungen liefen dem Zeitgeist zuwider. Die Zeit Anfang der 1860er-Jahre war noch nicht reif, für die Juden das Recht auf nationale Unabhängigkeit mit der Begründung einzufordern, dass auch sie eine Nationalität seien.
Hess’ große Enttäuschung war, dass seine ehemaligen Gefährten unter der Führung von Marx und Engels die nationale Emanzipation der Juden ablehnten und auch Lassalle, mit dem er schon 1863 eng zusammenarbeitete, sie nur großen Nationen zugestehen wollte. Für Hess hingegen war der zionistische Gedanke nicht vom sozialistischen zu trennen. Die partikulare Befreiung der Juden im eigenen Staat war eine Station auf dem Weg der universellen Emanzipation der Menschheit.
Rezeption Edmund Silberner (1966) und Shlomo Na’aman (1982) sind und bleiben die profundesten Hess-Experten, ihre Biografien sind Standardwerke. Weiße Flecken in Leben und Werk haben diese Biografen bei nachfolgenden Historikergenerationen nicht hinterlassen. Das weiß auch Volker Weiß. Sein Essay ist aber keineswegs überflüssig, zumal er sich gründlich mit der Hess-Rezeption der Linken auseinandersetzt, die Hess allzu lange in den Schatten der Parteigeschichtsschreibung gedrängt hat.
Moses Hess starb am 6. April 1875 in Paris. Beerdigt wurde er im Kölner Familiengrab. Im Lauf der Jahre wuchs das Grab völlig zu, überstand die Barbarei des Nationalsozialismus wie die sieben Luftminen der Alliierten, die auf den Friedhof niedergingen. Doch seine Ruhe fand Hess in Köln nicht: Seine Gebeine wurden im Oktober 1961 nach Israel überführt und auf dem Friedhof der Kwuza Kinneret bestattet, wo auch andere führende Zionisten wie Arthur Ruppin, Otto Warburg und Oskar Cohn beerdigt sind.
Volker Weiß: »Moses Hess. Rheinischer Jude, Revolutionär, früher Zionist«. Greven, Köln 2015, 239 S., 19,90 €