Vergangene Woche bin ich aus den Ferien zurückgekommen. Ich habe 76 Stunden für die Rückreise aus Sizilien gebraucht, aber das ist völlig in Ordnung. Eigentlich dauert das Ganze nur drei Stunden, mit dem Flugzeug, und während der Ferienzeit gibt es sogar Direktflüge ohne lästiges Umsteigen. Aber wer tut das noch? Fliegen? Heutzutage?
Also bin ich erst mit dem Dorfbus, dann mit dem Überlandbus gefahren. Dann mit der Fähre. Dann noch einmal Bus, aber nur ganz kurz, zum Bahnhof. Von dort aus bin ich dreimal umgestiegen, und nach 76 Stunden musste ich ein Taxi nach Hause nehmen, weil sonst nichts mehr fuhr. Anfangs war es völlig in Ordnung. Ich liebe beschauliches Reisen. So konnte ich ganz langsam und entspannt die Landschaft unter die Lupe nehmen. Meine Mitreisenden auch. Wann ist man schon mal fremden Menschen so lange so nah?
ferienerlebnisse Die ersten 24 Stunden waren wirklich ganz schön. Wir haben unsere Speisen geteilt und die besten Ferienerlebnisse ausgetauscht. Wir sind eingenickt, und unsere Köpfe fielen auf die Schultern des Nachbarn. Aber wir waren ja alle erholt, da stört das nicht so.
Ich glaube, es war beim zweiten Umsteigen, als mir eine deutsche Zeitungsüberschrift ins Auge fiel: »72 antisemitische Vorfälle im Freistaat Bayern seit April«.
Ich glaube, es war beim zweiten Umsteigen, als mir eine deutsche Zeitungsüberschrift ins Auge fiel: »72 antisemitische Vorfälle im Freistaat Bayern seit April«. Na sauber, dachte ich mir. Nette Begrüßung. Willkommen daheim! Wir haben jetzt August. Bis Jahresende könnten wir die 1000er-Marke knacken. Beim dritten Umsteigen kaufte ich die Zeitung und las von Rabbinern, die bespuckt worden waren. Von Berlin war ich Vorfälle dieser Art gewohnt, aber dass München und Hamburg nachzogen, überraschte mich doch.
Ich war gerade einmal drei Wochen im Ausland, fern jeder Zeitung und WLAN-frei (ja, es gibt sie noch, diese paradiesischen Orte). Die bereits angespannte Lage, die bei meiner Abreise geherrscht hatte, schien sich zugespitzt zu haben.
sorgenfalten Es ist immer schwer, nach dem Urlaub nach Hause zu kommen, dachte ich, aber das jetzt war schon extrem. Sorgenfalten bildeten sich auf meiner Stirn. Die Mitreisenden fragten, was mit mir los sei. Ich sagte: »Abbiamo dei problemi in Germania.« Sie sagten: »Anche noi in Italia!« Dann reichten sie mir etwas von ihrem Kuchen. Ich aß betrübt. Am Berliner Hauptbahnhof nahmen wir herzlich Abschied.
Heute Morgen, gleich nach dem Aufstehen, setzte ich mich an meinen Computer und ging ins Netz. Oh, hätte ich es doch nie getan! Jedenfalls nicht auf leeren Magen. Die einen beschimpften die anderen. Diese pöbelten zurück. Gekränkt wehrten sich die Ersten. Argumente fielen wenige, Beleidigungen umso mehr.
Es herrscht ein Ton, als würde es bei Edeka bald keine Butter mehr geben.
Auf der Straße wird gespuckt und gerempelt. Im Netz wird verbal ausgeholt, ja sogar gemordet. Ich war ehrlich erschüttert und meine mühsam erarbeitete Erholung binnen weniger Stunden dahin. Was ist bloß los mit uns? Wir sind doch eine zivilisierte, gut erzogene Gesellschaft. Wir haben alles: Demokratie, Krankenversicherung und eine Bundesliga. Trotzdem herrschen ein Ton und ein Umgang, als würde es bei Edeka bald keine Butter mehr geben.
wetter Verantwortliche werden gesucht, vermeintlich Schuldige gefunden. Und dann ist da noch das Wetter – es ist viel zu heiß. Und die Gewitter sind viel zu heftig. Früher war das anders.
Früher war alles besser. Sicher? Früher, also ganz viel früher, so sagen die talmudischen Weisen, wurde der Tempel in Jerusalem zerstört, weil die Menschen zerstritten waren, schlecht miteinander umgingen, »Sinat chinam«, unbegründeten Hass gegeneinander hegten. Am Sonntag endete mit dem Fastentag Tischa beAw die dreiwöchige Trauerperiode, in der unter anderem an die Zerstörung des Tempels erinnert wird. Ich weiß nicht, welchen Tempel es heute erwischen könnte, aber der aggressive Umgang miteinander, die aus dem Ruder laufenden Streitigkeiten könnten den Bundestag lässig aus den Angeln heben.
Gibt es keine Alternative zur verletzenden Auseinandersetzung? An diesem Freitag steht das Fest Tu beAw an.
Gibt es keine Alternative zur verletzenden Auseinandersetzung? An diesem Freitag steht das Fest Tu beAw an. Es ist kein besonders berühmtes Fest, hätte aber durchaus Potenzial, denn es geht um die Liebe. Gerne wird an diesem Tag Hochzeit gefeiert ...
liebe Die Liebe. Ach! Das letzte Mal habe ich von ihr in einem Degeto-Sonntagsfilm gehört. Sie macht sich rar und ist doch eigentlich gar nicht so übel. Was wäre, wenn man, nach einer dreiwöchigen Trauerphase, sich wenigstens eine Woche lang nur Liebenswertes sagt? Eine Woche lang unbegründete Nettigkeiten querfeldein! Ja, ich weiß, das klingt utopisch, aber es wäre einen Versuch wert.
Hier einige Vorschläge zum Ausprobieren: »Du musst den Müll erst nach Rosch Haschana runterbringen, ich habe eh eine verstopfte Nase« (zum Sohn). »Sie erinnern mich an einen unangenehmen Rassisten, den ich mal kannte, aber Sie sind viel netter« (zum Pegida-Demonstranten). »Ich liebe Sie, auch wenn Sie mich schrecklich nerven« (zum Chef/zur Chefin). »Sie sind der beste Busfahrer der Welt« (passt zu jedem). »Mit Ihnen würde ich gerne mal nach Israel reisen« (zum AfD-MdB). »Mit Ihnen kann ich die Welt aus den Angeln heben« (zur Fleischfachverkäuferin). Und so weiter und so fort. Es ließe sich beliebig fortführen.
Eine herrliche Woche könnte das werden. Gesprochen oder geschrieben, man könnte sich fast daran gewöhnen.
Die Autorin ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin.