Essay

Seid ihr irre?

»Ich möchte mir auch mal wünschen, Jude zu sein«: Adriana Altaras Foto: Rolf Walter/xpress.berlin

»Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.« An diesen Satz von Theodor Adorno musste ich die letzten Tage immer wieder denken. Darf man nach Auschwitz überhaupt schreiben? Und lachen? Darf man lachen?

Gott sei Dank wurde nach der Schoa geschrieben. Es hat uns allen geholfen, sich dem Unbegreiflichen zu nähern. Es wurde sogar gelacht, und auch das Lachen hat uns immer wieder ein bisschen erleichtert.Wenn Roberto Benigni in seinem Film La vita è bella (Das Leben ist schön) seinen Sohn zum Lachen bringt, lächelt eine ganze Generation.

Sie schwärmen von jüdischen Liebhabern und lobpreisen deren Durchhaltevermögen.


Seit dem 7. Oktober frage ich mich Ähnliches. Was und wie jetzt schreiben? Alles kommt mir banal und kleinmütig vor. Ich fühle mich ohnmächtig.

Dabei kann ich mich über Anteilnahme nicht beschweren. Im Gegenteil. Ich bekomme Nachrichten und Anrufe, die vielen Menschen am Brandenburger Tor zeigen echtes Mitgefühl.

PHILOSEMITISMUS Trotzdem bin ich vorsichtig. Misstrauisch. Anteilnahme und Philosemitismus liegen so verflixt nah beieinander.
Seitdem ich denken kann, gibt es immer wieder Menschen in meiner Nähe, die jüdisch sein wollen.

Sie möchten so witzig und so schlagfertig sein wie Juden. Kosmopolitisch und überall auf der Welt Freunde haben.
Sie möchten so reich wie Juden sein und Immobilien besitzen. Und sie wissen – flüstern sie mir zu –, dass Juden keine Steuern zahlen. Auch deshalb wäre es natürlich schön, Jude zu sein.

Sie finden das Musical Anatevka von Joseph Stein wunderschön, viel besser als Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar. Die Geschichte dieser Juden würde zwar traurig für beide enden, aber irgendwie sei Tevje die interessantere Persönlichkeit.

Sie finden, dass Israel ein großartiges Land ist, auch wenn die Israelis, anders als ihre deutsch-jüdischen Freunde, sich wie Barbaren benehmen würden.

Der Terroranschlag der Hamas sei zwar unverzeihlich, aber … Sie hätten schon immer gewusst, dass das irgendwann mal eskalieren würde, bei so einer Regierung … Und so weiter und so fort.

NASE Konspirativ beugen sie sich zu mir vor: Juden seien ungeheuer geschäftstüchtig, mussten sie ja notgedrungen immer sein, die Armen. Aber es liege ihnen wirklich, sie hätten es in der Nase, das Gespür für gute Geschäfte. In der großen Nase, lächeln sie verschmitzt.

Mein Gott, das haben sie von den Juden gelernt, so gut Witze zu erzählen. Wirklich, das mache keiner den Juden nach, diesen Humor. Diese Witze-Flut. Einmalig.

Überhaupt seien Juden sehr, sehr schlau, manchmal sogar klug. Wenn man sich mit möglichst vielen von ihnen umgibt, könne man selber gleich schlauer werden. Wirklich!

Leider seien sie überdurchschnittlich hypochondrisch, zwanghaft nahezu, kein Wunder, dass der gute Freud Jude war. Bei seinen Artgenossen gab es eine Menge zu reparieren.

Na ja, und nach dem Krieg wurde es gar nicht besser. Jetzt hätte wirklich jeder Jude sein persönliches Trauma. Uferlos.

Aber der Schwanz … Der jüdische Schwanz. Makellos. So was von schön. Beschneidung hin oder her, die sei natürlich ein brutaler Eingriff in die Würde des Säuglings, aber der Schmock sehe wirklich sehr schön aus und leiste hervorragende Dienste.

Frauen, die jemals eine jüdische Affäre gehabt hätten, würden nichts anderes mehr wollen. In den höchsten Tönen schwärmten sie von der Geschicklichkeit der jüdischen Liebhaber und lobpreisten ihr Durchhaltevermögen.

Der Jude dürfe bei allem mitreden. Das dürfe sonst keiner. Ein unglaubliches Privileg. Als Jude könne man Witze über die Schoa machen und höchstens als Antisemit beschimpft werden.

KARRIERE Auch dürften die Juden Israel kritisieren – was bitter nötig sei – und sie verlören trotzdem nicht ihren Job. Im Gegenteil, der Jude, der Israel auseinandernimmt, den erwarte eine ganz steile Karriere … Also bisher jedenfalls. Vielleicht würde sich das aber jetzt ändern?

Ach, wenn ich doch ein Jude wär’! Die Größe und Form der jüdischen Nase ist gewöhnungsbedürftig. Eine schöne, gerade Nase sei an sich viel attraktiver.

Und auf die vielen Neurosen könne man auch verzichten. Aber man muss eben Kompromisse machen. Für eine Karriere allemal.

Überhaupt seien Juden sehr, sehr schlau. Manchmal sogar klug.


Jude sein. Ohne große Nase. Jude sein ohne Traumata und Neurosen. Jude sein und Israel hassen. Schlechte Witze machen. Und steinreich sein.
Und vor allem nie wieder zum Volk der Täter gezählt werden. Nicht am Gardasee und nicht an der Riviera. Einmal Opfer sein! Nein, für immer Opfer sein. Das muss schön sein.

VITA Eine neue Vita basteln und aus die Maus. »Nein, ich bin kein Deutscher. Ich bin Jude. Meine Mutter, nein, meine Großmutter, war vielleicht, eventuell Jüdin, ich erinnere mich nicht mehr ganz genau …« Ja, es ist schrecklich! »Meine Vorfahren waren in Treblinka. Und Auschwitz und Majdanek, und ich schlafe nur an geraden Tagen, an den anderen weine ich …«

Mein Gott, seid ihr irre? Haben wir nicht alle ganz andere Probleme? Vielleicht bin ich zu frech und sicher ungerecht.

Es gab bestimmt Situationen, in denen ich mein Jüdischsein ausgenutzt habe. Als mein Mathelehrer mir drohte, ich solle aufhören zu schwatzen, sonst … »Und was haben Sie während des Krieges gemacht?«, fragte ich ihn dreist.

FAHRSCHEIN Der Schaffner, der mich ohne Fahrschein aus dem Zug schmeißen wollte: »Was, Sie werfen Juden jetzt aus dem Zug?« Das war in den 70er-Jahren in Hessen, und ich schäme mich ein bisschen.

Aber ich war zwölf, als mir das Ausmaß der Schoa in unserer Familie klar wurde. Ich war 14, da habe ich mich gefragt, warum ich leben darf, wenn 80 Prozent meiner Angehörigen tot sind, und wollte sterben.

Ich war 17, da wollte ich meine Tante und meine Mutter trösten, wenn sie nachts weinten, weil sie glaubten, noch im KZ zu sein. Es hat nie funktioniert. Sie weinten und beteten weiter, dass Hitler nie wiederkommen solle, die Nazis nie wieder an die Macht gelangen dürften …

Ich habe nicht gegen meine Eltern rebelliert, wie es eine normal pubertierende Jugendliche tut. Ich habe sie zeitlebens geschützt, denn sie hatten die Hölle schon erlebt. Und jetzt bin ich 63 und weiß noch weniger als bisher, wie und wo friedliches jüdisches Leben möglich sein soll.

GOLDMÜNZEN Ich habe schon immer meine Trauer mit Humor gewürzt und mir ein paar Goldmünzen gekauft … falls ich doch noch fliehen muss. Nur weiß ich nicht, wohin! Hand aufs Herz: Möchtet ihr jetzt noch immer jüdisch sein?

Ich möchte, dass meine größte Sorge die Steuer ist – und was Omi zu Weihnachten bekommt.


Ja, ich gebe es zu, manchmal möchte ich tauschen mit einem Nichtjuden. Ich möchte, dass meine größte Sorge meine Steuererklärung ist und was Omi zu Weihnachten bekommt. Und ich möchte mir auch mal wünschen, Jude zu sein.

Ich möchte, dass bei Familienfesten 150 Leute da sind. Dass ich Cousinen und Cousins habe und Tanten und Onkel. Dass ich nicht mitten in der Nacht aufwache, weil ich von einer anderen Vita geträumt habe. Einer friedlichen. Ohne Flucht. Ohne Verfolgung. Ohne Terror.

Es ist völlig egal, meine lieben eingebildeten Juden, ob ihr Katholiken seid, evangelisch oder Atheisten: Wenn der IS an der Macht ist, wenn die neuen Rechten aufmarschieren, haben wir alle nichts mehr zu lachen. Ich fände es sehr beruhigend, wenn wir Seite an Seite zusammenstehen würden. Einfach so. Für die Demokratie. Für den Frieden und für so viel Freiheit wie möglich für jeden Einzelnen.

Ob am Brandenburger Tor oder jeden Tag irgendwo auf der Welt. Geht das bitte? Das wäre wirklich sehr, sehr schön!

Die Autorin ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin.

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