Rezension

Seid achtsam vor den Mächtigen

Marko Martin porträtiert Dissidenten des 20. Jahrhunderts, die sich allen Totalitarismen verweigerten

von Michael Wuliger  26.02.2020 12:49 Uhr

Ein kleines Denkmal gesetzt: Marko Martin Foto: imago images/Bernd Friedel

Marko Martin porträtiert Dissidenten des 20. Jahrhunderts, die sich allen Totalitarismen verweigerten

von Michael Wuliger  26.02.2020 12:49 Uhr

Der Kalte Krieg ist inzwischen 30 Jahre her. 1989 fiel die Berliner Mauer, in den Monaten darauf stürzten die kommunistischen Regimes erst in Osteuropa, dann in der Sowjetunion selbst, der Ostblock zerfiel. Eine ganze Generation ist inzwischen erwachsen, die den realen Sozialismus nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennt.

Ein Buch wie Marko Martins Dissidentisches Denken wirkt da auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen. Der Autor, selbst in der DDR politisch und gesellschaftlich marginalisiert aufgewachsen, porträtiert darin Männer und Frauen, die im Kalten Krieg gegen den damals unter Intellektuellen herrschenden Zeitgeist der totalitären Versuchung am Primat der individuellen Freiheit festhielten.

CHRONISTEN Arthur Koestler und Manès Sperber sind darunter, die literarischen Chronisten der großen Enttäuschung, als die das kommunistische Versprechen sich für die Generation zwischen den Weltkriegen entpuppte. Horst Bienek, Jürgen Fuchs, Milan Kundera und Pavel Kohout stehen für diejenigen, die den Realsozialismus nach 1945 am eigenen Leib erlebten.

Und da sind die Überlebenden des anderen, des nationalsozialistischen Totalitarismus: Edgar Hilsenrath, Hans Sahl, Robert Schopflocher etwa. Anders als manche ihrer Zeit- und Leidensgenossen tappten sie trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Verfolgung durch die Nazis nie in die Falle des stalinistischen »Antifaschismus«. Davor bewahrte sie ihr, wie Marko Martin es im Titel nennt »dissidentisches Denken«, das sich, so definiert er es, »Macht- und Unterordnungs-Ideologien verweigerte«.

Trotz der Verfolgung durch die Nazis tappten sie nie in die Falle des stalinistischen »Antifaschismus«.

Das steht auch in der jüdischen Tradition. »Seid achtsam, wenn ihr es mit den Mächtigen zu tun habt«, heißt es in den Sprüchen der Väter. Und so ist es kein Zufall, dass viele der im Buch Porträtierten jüdisch sind. (Wobei man nicht verschweigen sollte, dass es mindestens ebenso viele jüdische Intellektuelle gab, die den Sirenenklängen des Kommunismus folgten und dort einen neuen religiösen Glauben fanden.)

Besonders beeindruckend, ja berührend, lesen sich die Schilderungen der persönlichen Begegnungen, die Marko Martin mit Zeugen des Zeitalters der Extreme hatte, wie Aharon Appelfeld, Francois Fejtö oder Melvin J. Lasky. Und vor allem jene mit Frauen (ist es Zufall, dass es gerade Frauen sind?), deren Namen zu Unrecht kaum jemand kennt: Elisabeth Fisher-Spanjer, Mariana Frenk-Westheim, Anne Ranasinghe. Sie der Vergessenheit entrissen und ihnen wenigstens ein kleines Denkmal gesetzt zu haben, ist nicht das geringste Verdienst dieses Buchs.

GEHÖR Ist das alles nur ein Rückblick auf eine Vergangenheit, die 1989/90 endete? Für Marko Martin nicht. Dissidentisches Denken braucht es für ihn gerade heute wieder, in einer Zeit, in der einfache Erklärungen und kollektivistische Bewegungen aller möglichen Couleur erneut Konjunktur haben, expansionistische Nationalismen fröhliche Urständ feiern unter beschwichtigendem Verständnis von Politikern und Intellektuellen – »die Enkel und Urenkel jener arrogant Naiven, die schon in den 1930er-Jahren nichts mitgekriegt hatten«, wie Elisabeth Fisher-Spanjer es formuliert.

Nur gibt es leider aktuell nicht genug solcher dringend benötigten Dissidenten. Und diese wenigen kommen viel zu wenig zu Gehör. Hören wir deshalb denjenigen zu, die Marko Martin zu Wort kommen lässt.

Marko Martin: »Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters«. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019, 544 S., 42 €

Saarbrücken

Moderne Galerie zeigt Illustrationen von Marc Chagall

Die Schau »Marc Chagall. Die heilige Schrift« ist bis zum 25. April 2025 zu sehen

 21.11.2024

Fußball

Neuer wackelt: Plötzliche Chance für Peretz im Bayern-Tor?

Manuel Neuer plagt »ein Stechen im Rippenbereich« und Sven Ulrteich fällt vorerst aus persönlichen Gründen aus

 21.11.2024

Gut besucht: die Konferenz in Berlin

Zionismus-Tagung

Vom Recht auf einen souveränen Staat

In Berlin diskutieren Referenten und Teilnehmer aus Deutschland und Israel verschiedene Aspekte

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Veranstaltungen

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 21. November bis zum 28. November

 21.11.2024

Liedermacher

Wolf Biermann: Ein gutes Lied ist zeitlos gut

Er irre sich zuweilen, gehöre habe nicht zu den »irrsten Irrern«, sagt der Liedermacher

 21.11.2024

Nachruf

Meister des Figurativen

Mit Frank Auerbach hat die Welt einen der bedeutendsten Künstler der Nachkriegsmoderne verloren

von Sebastian C. Strenger  21.11.2024

Berlin

Ausstellung zu Nan Goldin: Gaza-Haltung sorgt für Streit

Eine Ausstellung würdigt das Lebenswerk der Künstlerin. Vor der Eröffnung entbrennt eine Debatte

von Sabrina Szameitat  21.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 21.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung

von Leticia Witte  20.11.2024