Der Kalte Krieg ist inzwischen 30 Jahre her. 1989 fiel die Berliner Mauer, in den Monaten darauf stürzten die kommunistischen Regimes erst in Osteuropa, dann in der Sowjetunion selbst, der Ostblock zerfiel. Eine ganze Generation ist inzwischen erwachsen, die den realen Sozialismus nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennt.
Ein Buch wie Marko Martins Dissidentisches Denken wirkt da auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen. Der Autor, selbst in der DDR politisch und gesellschaftlich marginalisiert aufgewachsen, porträtiert darin Männer und Frauen, die im Kalten Krieg gegen den damals unter Intellektuellen herrschenden Zeitgeist der totalitären Versuchung am Primat der individuellen Freiheit festhielten.
CHRONISTEN Arthur Koestler und Manès Sperber sind darunter, die literarischen Chronisten der großen Enttäuschung, als die das kommunistische Versprechen sich für die Generation zwischen den Weltkriegen entpuppte. Horst Bienek, Jürgen Fuchs, Milan Kundera und Pavel Kohout stehen für diejenigen, die den Realsozialismus nach 1945 am eigenen Leib erlebten.
Und da sind die Überlebenden des anderen, des nationalsozialistischen Totalitarismus: Edgar Hilsenrath, Hans Sahl, Robert Schopflocher etwa. Anders als manche ihrer Zeit- und Leidensgenossen tappten sie trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Verfolgung durch die Nazis nie in die Falle des stalinistischen »Antifaschismus«. Davor bewahrte sie ihr, wie Marko Martin es im Titel nennt »dissidentisches Denken«, das sich, so definiert er es, »Macht- und Unterordnungs-Ideologien verweigerte«.
Trotz der Verfolgung durch die Nazis tappten sie nie in die Falle des stalinistischen »Antifaschismus«.
Das steht auch in der jüdischen Tradition. »Seid achtsam, wenn ihr es mit den Mächtigen zu tun habt«, heißt es in den Sprüchen der Väter. Und so ist es kein Zufall, dass viele der im Buch Porträtierten jüdisch sind. (Wobei man nicht verschweigen sollte, dass es mindestens ebenso viele jüdische Intellektuelle gab, die den Sirenenklängen des Kommunismus folgten und dort einen neuen religiösen Glauben fanden.)
Besonders beeindruckend, ja berührend, lesen sich die Schilderungen der persönlichen Begegnungen, die Marko Martin mit Zeugen des Zeitalters der Extreme hatte, wie Aharon Appelfeld, Francois Fejtö oder Melvin J. Lasky. Und vor allem jene mit Frauen (ist es Zufall, dass es gerade Frauen sind?), deren Namen zu Unrecht kaum jemand kennt: Elisabeth Fisher-Spanjer, Mariana Frenk-Westheim, Anne Ranasinghe. Sie der Vergessenheit entrissen und ihnen wenigstens ein kleines Denkmal gesetzt zu haben, ist nicht das geringste Verdienst dieses Buchs.
GEHÖR Ist das alles nur ein Rückblick auf eine Vergangenheit, die 1989/90 endete? Für Marko Martin nicht. Dissidentisches Denken braucht es für ihn gerade heute wieder, in einer Zeit, in der einfache Erklärungen und kollektivistische Bewegungen aller möglichen Couleur erneut Konjunktur haben, expansionistische Nationalismen fröhliche Urständ feiern unter beschwichtigendem Verständnis von Politikern und Intellektuellen – »die Enkel und Urenkel jener arrogant Naiven, die schon in den 1930er-Jahren nichts mitgekriegt hatten«, wie Elisabeth Fisher-Spanjer es formuliert.
Nur gibt es leider aktuell nicht genug solcher dringend benötigten Dissidenten. Und diese wenigen kommen viel zu wenig zu Gehör. Hören wir deshalb denjenigen zu, die Marko Martin zu Wort kommen lässt.
Marko Martin: »Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters«. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019, 544 S., 42 €