Frau Zirner, Herr Zirner, Sie haben sich für Ihr Buch »Ella und Laura« auf die Suche nach Ihren beiden Großmüttern begeben. Welche Frauen lernen wir kennen?
August Zirner: Beide kamen aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und waren doch sehr starke Frauen. Ella hat sich in einer Männerdomäne, nämlich in der Kaufmannswelt, als Frau – und jetzt kommt es: als jüdische Frau – in Wien durchgesetzt.
Ana Zirner: Grundsätzlich muss man natürlich bedenken, dass es in der Lebenszeit unserer Großmütter, also lange vor der Emanzipation der Frauen, etwas anderes bedeutete, eine »starke Frau« zu sein, als heute. Es ging damals prinzipiell um andere Formen von Stärke, und Laura zeigte diese auf ganz andere Art als ihre spätere Schwiegermutter Ella. Meine Großmutter Laura war willensstark und wusste sehr genau, was sie wollte, und auch, wie sie es erreichen konnte. Sie war auf eine für ihre Zeit ungewöhnliche Weise offen, wild und selbstbewusst, besonders in Bezug auf Männer. Sie hatte wohl sehr viele Verehrer und ließ auch nichts »anbrennen«.
Sehen Sie das ähnlich, Herr Zirner?
August Zirner: Ich sehe das eher bei meiner Großmutter Ella so, dass sie nichts hat »anbrennen« lassen. Meine Großmutter führte dadurch, dass sie schon früh Witwe war, im Wien der 1910er- und 20er-Jahre – in dieser kulturellen und kunstaffinen Metropole – ein großbürgerliches Leben mit den daraus resultierenden Liebschaften.
Ana Zirner: Es war damals nicht unüblich im Wiener Großbürgertum, dass man neben der Ehe auch andere Geschichten »am Laufen« hatte. Das gab es durchaus auch bei meiner Urgroßmutter Ella. Laura hingegen war gar nicht so großbürgerlich erzogen, sondern sie war vor dem Zweiten Weltkrieg einfach ein unglaublich lebensfrohes Mädchen. Sie genoss es, sich als gut aussehende und groß gewachsene Frau die Männer ein bisschen aussuchen zu können.
August Zirner: Der Vollständigkeit halber muss man aber sagen, dass sie, als mein Vater gestorben und sie alleinstehend war, wahnsinnig unter der Verachtung der sehr aufgeklärten, sehr liberalen Gemeinde litt, in der sie keine Position mehr hatte.
Ana Zirner: Wahrscheinlich wurde ihr erst zu diesem Zeitpunkt klar, dass sie neben ihrem Ehemann, einem an der lokalen Universität angesehenen Musikprofessor, einfach nur als Ehefrau wahrgenommen worden war. Dabei war sie überhaupt kein Frauchen, das nur die Professorengattin abgibt. Sie hatte einen eigenen Kopf und eigene, auch berufliche Vorstellungen und Projekte.
August Zirner: Dazu muss man sagen, dass mein Vater es gewohnt war, dass Frauen das Sagen haben. Es war für ihn kein Thema, dass Frauen eine autoritäre Position einnehmen können.
Sie nähern sich den beiden Frauen auf ganz unterschiedliche Art und Weise, nämlich in eigenen Erzählsträngen. Wie kam es dazu, Herr Zirner?
August Zirner: Wir hatten die Verabredung: Ich gehe meine Wege in der Recherche, und meine Tochter geht ihre Wege. Ich mische mich nicht ein, ich erzähle nichts – und umgekehrt. Das hat bis auf die Startschwierigkeiten auch zu 98 Prozent geklappt.
Ana Zirner: Ich hatte es mit der Annäherung vielleicht etwas leichter als August, weil ich diese tolle Vorlage hatte – ein Buch, in dem Laura für ihre Enkelkinder ihr Leben aufgeschrieben hat. Dass es überhaupt ein solches Dokument gibt, ist ein riesiger Schatz. Die Recherche bei August gestaltete sich doch etwas schwieriger.
August Zirner: Schwieriger einerseits, weil ich den Weg zu den Ämtern gehen musste. Ich bin kein Historiker und kein Rechercheur. Ich war nicht nur in der Nationalbibliothek, beim Grundbuchamt, sondern auch bei der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, die waren sehr hilfreich. Ich musste Dokumente über die Enteignung und Arisierung finden, die meiner Großmutter und meinem Vater im Wien der 1930er-Jahre widerfahren sind. Es war mir gar nicht so klar, dass das Ausmaß des Antisemitismus in Österreich schon so früh zu spüren war. Als ich bemerkte, dass Menschen der Gegenwart große Probleme hatten, über diese Zeit zu sprechen, solche Verlegenheiten, beinahe schon Aggressionen hatten, weil ich nachfragte, das hat mich getriggert.
Ana Zirner: Dadurch entsteht natürlich auch Wut. Wir haben uns ganz zu Beginn einmal darüber unterhalten, was Wut bewirken kann. August sagte, dass Wut ihn eher lähmt, und ich sagte, dass mich Wut aktiviert. Ich glaube, dass die Wut dich auch aktiviert hat, wenn man die Ungerechtigkeit so unmittelbar zu spüren bekommt. Wenn man merkt, wie viel in Österreich – anders als in Deutschland – versucht wird zu vertuschen. Das macht einen so wütend, dass man etwas tun muss.
August Zirner: Ich sagte damals, dass mich die Wut lähmt, als ich noch viel mehr meinem wohlerzogenen, höflichen Wesen unterlag. Inzwischen habe ich dieser Wut freien Lauf gelassen, habe sie dann an der Leine spazieren geführt. Sie ist mittlerweile für mich ein Motor zu fragen: »Hallo, was wollt ihr denn nicht wissen?«
Wie hat Ihr Umfeld die Recherche aufgenommen?
Ana Zirner: In meiner Generation habe ich überwiegend gehört: Wie toll, du hast dich mit deiner Vergangenheit beschäftigt, das würde ich auch gerne mal machen und auch gern lesen. Bei August ist das anders.
August Zirner: Ich will Sie damit nicht belasten.
Ist es so schlimm?
August Zirner: Ja. »Nicht schon wieder!«, »Willst du dich jetzt wichtigmachen?« oder »Echt, jetzt reicht es aber!«. Intellektuelle Wiener, wohlgemerkt.
Wie reagieren Sie, wenn jemand sagt, dass »jetzt endlich mal Schluss sein muss«? Der berühmte »Schlussstrich«.
Ana Zirner: Gesellschaft funktioniert nicht nach einem Schlussstrich. Dafür ist die Geschichte viel zu stark, dafür sind auch Familienbande viel zu stark.
Mit welchen Fragen haben Sie sich während des Schreibprozesses auseinandergesetzt?
Ana Zirner: Inwiefern haben wir ein Recht, als »Enkel der Opfer« zu schreiben? Wie stark »darf« man sich dem Judentum zugehörig fühlen, wenn man nicht nach der matrilinearen Linie jüdisch ist? Wir sind ja nicht jüdisch, zumindest nicht ...
August Zirner: ...nach halachischem Gesetz jüdisch.
Ana Zirner: Aber das ist vielleicht auch gar nicht so sehr der Punkt bei der Frage, wie viel Recht wir haben, darüber zu erzählen. Wir haben beide Großmütter, die überlebt haben. Ein Halbbruder meiner Großmutter ist erschossen worden, es gibt Personen in unserer erweiterten Familie, die noch mehr erlitten haben als sie. Und an einem Moment im Arbeitsprozess, als ich August aus meinem Text vorgelesen habe, hatte er einen kleinen Zusammenbruch und sagte, fast mit einem schlechten Gewissen: »Wir haben so ein Glück gehabt.«
August Zirner: Ich bin in Amerika aufgewachsen. Ich bin behütet aufgewachsen, fern dieser Problematik. Aber damit beginnt das Ganze erst: Denn die Schoa wurde von mir ferngehalten. Ich habe erst mit 40 angefangen zu realisieren, wie speziell diese Art ist, in die Welt geworfen worden zu sein. Da war ich bereits mehrfacher Familienvater.
Ana Zirner: Unsere Großmütter waren doch sehr privilegiert, denn sie sind beide in einem jüdischen – im Falle meiner Großmutter allerdings oberflächig sehr unjüdischen – Kontext groß geworden, bis zu dem Zeitpunkt, in dem sie von anderen »zu Juden gemacht wurden«. Eigentlich mag ich diesen Ausdruck nicht.
August Zirner: Aber zum Thema »privilegiert«: Meine Mutter und mein Vater waren privilegiert genug, dass sie von anderen dermaßen radikal gedemütigt wurden, und ich kenne die Akten, die Sprache, ich habe die Bittgesuche meiner Großmutter. Und jetzt komme ich wieder zu meinem Onkel, von dem Ana vorhin gesprochen hat. Der Lieblingsbruder meiner Mutter ist in Mauthausen im »Laufe eines Verhörs ums Leben gekommen«, wie es heißt. Er hieß auch August, und dann rückt auf einmal dieses Thema so nah an mich heran, dass ich gar nicht umhinkomme zu sagen, es ist Teil meiner biografischen DNA.
Ana Zirner: Auch deswegen kann es keinen Schlussstrich geben, denn wir kommen davon nicht los. August kannte diesen Onkel nicht. Aber auch, wenn ich diese Geschichten lese, fühle ich mich ihm so verbunden, als hätte ich ihn gekannt. Dafür gibt es aber keinen einzigen sachlichen Grund, außer eben: dass er Teil meiner Familie ist. Ich hätte das nie für möglich gehalten, dass ich das so stark empfinden kann. Familie, das waren bis dato für mich mein Vater, meine Mutter und meine drei Geschwister gewesen. Punkt. Aber auch familiäre Wurzeln sind so stark, dass man dagegen nicht ankommt.
In Ihrem Buch schreiben Sie getrennt voneinander mit einer Ausnahme, einem Dialog in der Buchmitte, der die Überschrift trägt »Wie jüdisch sind wir eigentlich?«. War die Annäherung an diese Frage schwierig?
Ana Zirner: Es war ein Prozess, denn Glaube ist für viele ein heikles Thema. Wir sind ja beide nicht konfessionell gläubig, und doch fühlen wir eine Verbindung zur jüdischen Kultur. Kann man das so sagen?
August Zirner: Also, einer der inspirierenden Anteile der jüdischen Theologie ist die Fragilität des Glaubens und die Frage: »Wo ist er?«, »Wie ist er?«. Ich weiß gar nicht, was ich bin, ich halte es inzwischen auch für gleichgültig und sage: Meine Heimat ist die Diaspora. Meine Heimat ist die Suche.
Noch einmal kurz zurück zu Ella und Laura. Frau Zirner, Sie schreiben, dass Sie sich Laura nie als Omi oder Oma haben vorstellen können, sondern immer als Großmutter.
Ana Zirner: Unter Oma und Omi stelle ich mir einfach eine andere Person vor. Auch Großmutter nenne ich sie nur, weil das die familiäre Bezeichnung ist. Am liebsten würde ich sie nur Laura nennen. Laura, als die eigenständige Frau, die ich im Rechercheprozess kennengelernt habe. Unter Oma stelle ich mir eine Angehörige vor, die immer nah und da ist, die warm ist. Was mich aber gefreut hätte, wäre, in ihr ein Gegenüber in einer mir sonst fernen Generation zu haben.
»Ich sehe meine Mutter durch Ana mit anderen Augen«, schreiben Sie im Buch, Herr Zirner. Wie hat sich Ihr Blickwinkel verändert?
August Zirner: Allgemein hat sich mein Blickwinkel auf die Welt durch alle unsere vier Kinder verändert. Sie haben ab dem Moment ihrer Geburt meinen Blick in alle vier Himmelsrichtungen gerichtet. Durch Anas Recherche und ihre viel analytischere Art, an Sachen heranzugehen, habe ich das Buch, das meine Mutter für die Enkel geschrieben hat, ganz anders gelesen. Ich habe es früher als gegeben gesehen. Jetzt spüre ich Anas Blick und denke über meine Mutter anders nach als früher.
Ana Zirner: Wir sagen immer, dass wir die Geschichten nach bestem Wissen und Gewissen fabuliert haben. Ich habe recherchiert, ja, aber es ist auch meine Vorstellung von der Frau, die meine Großmutter hätte gewesen sein können. Von daher ist es spannend, wie sich sein Bild geändert hat.
August Zirner: Aber das ist ja das Schöne: das Gespräch, dass man in eine neue Form, in eine intensivere und offenere Form des Dialogs kommt.
Frau Zirner, haben Sie denn auch Ihren Vater durch das Schreiben von einer anderen Seite kennengelernt?
Ana Zirner: Dadurch, dass ich meine Großmutter besser kennengelernt habe, habe ich auch ihn und den Kontext, in dem er aufgewachsen ist, besser verstehen gelernt. Das ist ein schöner Nebeneffekt des Buches.
Wir bewegen uns ja in dem Buch in Wien. Was bedeutet Ihnen beiden diese Stadt?
August Zirner: Wien ist die Stadt meiner Rückkehr nach Europa. Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich nach Wien zurückziehe. Ich war sozusagen die Mayflower, die direkt bis nach Wien fuhr. Ich bin also in Wien gelandet und habe gemerkt, dass ich so etwas wie Heimat habe. Aber nach einem halben Jahr habe ich mich nach Deutschland gesehnt. So grotesk das klingt. Ich konnte die Wiener Art, mit Dingen wie Tod, Präzision der Gedanken, der Sprache, des Spielens umzugehen, nicht aushalten. In Wien habe ich mir einen deutschen Akzent angewöhnt.
Ana Zirner: Wenn man Wien gut kennt, kann man diese Stadt nur lieben und hassen. Wien ist morbide und zerstörerisch, aber eben auch leidenschaftlich und tiefgründig.
Mit der Autorin und dem Schauspieler sprach Katrin Richter.
Ana Zirner und August Zirner: »Ella und Laura: Von den Müttern unserer Väter«. Piper, München 2021, 325 S., 22 €