Als Stuart Chesner vor 20 Jahren nach Israel einwanderte, nannte man die Kinder, mit denen der Psychologe und Pädagoge aus Amerika arbeitete, noch abschätzig »Zappelphilipps«: Schüler – meist Jungen –, die nicht still sitzen und sich schwer konzentrieren konnten, ständig für Ärger im Klassenzimmer sorgten und in ihren Leistungen immer mehr abfielen – und das, obwohl sie über ganz normale, oft sogar überdurchschnittliche, Intelligenz verfügten.
An der renommierten Cleveland Clinic in Ohio, an der Chesner vor seiner Alija gearbeitet hatte, begann man Anfang der 90er-Jahre, die Ursachen dessen zu erforschen, was als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in die ärztlichen Diagnosehandbücher einging: Unkonzentrierten, lauten, »schwierigen« Schülern mangelte es nicht einfach an Disziplin und Willenskraft; sie litten unter einer komplexen neurologischen und psychologischen Störung. ADHS-Kinder sind sehr leicht ablenkbar, sie können sich nicht lange auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren, sie haben Schwierigkeiten beim Planen und Organisieren, vergessen und verlieren oft Gegenstände. Bei manchen, nicht bei allen, kommt noch Hyperaktivität hinzu: Sie sind unruhig, können nicht still sitzen bleiben, laufen im Klassenzimmer herum und sorgen generell für Chaos.
pionier Sein in den USA erworbenes Wissen nahm Chesner, der sich jetzt mit Vornamen Simcha nannte, mit nach Israel. Doch damals steckte die Forschung zu diesem Störungsbild weltweit noch in den Kinderschuhen, in Israel war die Diagnose ADHS noch gänzlich unbekannt. Am Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem, in dessen psychiatrischer Abteilung Chesner zunächst arbeitete, hatte er täglich mit Jugendlichen zu tun. »Wir behandelten zahllose Schulabbrecher oder leistungsschwache Schüler, die aufgrund emotionaler Probleme an uns überwiesen wurden«, erinnert sich Chesner. »Viele von ihnen waren sehr intelligent, versagten aber in der Schule und rutschten in Drogenkonsum und Kriminalität ab.« Chesner war überzeugt, dass viele von ihnen unter ADHS litten. Aber ohne die entsprechende Diagnose konnten sie keine passende Behandlung bekommen.
Also setzte Chesner alles daran, ein regelrechtes Netzwerk aufzubauen: Er gründete die Bnei Chayil Yeshiva – die erste israelische Oberschule speziell für Jugendliche mit ADHS –, ferner das »Jakobsleiter-Zentrum für Persönlichkeitserziehung« im Jerusalemer Problemstadtteil Kiryat Hayovel und das »Matara-Institut für die Diagnose und Behandlung von Verhaltens- und Lernproblemen«. Zudem lud er ADHS-Experten aus dem Ausland zu Vorträgen und Diskussionen nach Israel ein und organisierte den ersten internationalen Kongress zum Thema ADHS in der jüdischen Welt.
lesekultur Chesner hatte nämlich die Beobachtung gemacht, dass Kinder aus religiösen Familien besonders stark unter ihren ADHS-Symptomen leiden. Denn in diesem Umfeld sind stundenlanges hochkonzentriertes Lesen und Lernen besonders hoch angesehen. Und ADHS-Kinder, die nun einmal mehr Abwechslung brauchen und nur für eine relativ kurze Zeitspanne bei einer Aufgabe bleiben können, gelten dann besonders schnell als schwarzes Schaf – als dumm, faul, wenn nicht gar böse.
Gegen Vorurteile dieser Art müssen Chesner und seine Mitstreiter – inzwischen hat er zahlreiche Psychologen und Kinderärzte von seinem Ansatz überzeugt – immer noch ankämpfen. Viele halten ADHS auch für eine Modediagnose, mit der ganz normales kindliches Verhalten zur Krankheit gestempelt werde. Diese Kritiker übersehen allerdings, dass die Betroffenen unter diesem Verhalten selbst am meisten leiden – ein guter Schulabschluss ist nun einmal wichtig – und ihnen mit Verständnis für ihre »Wildheit« allein nicht geholfen ist.
Zudem übersehen sie, dass sich mithilfe der Magnetresonanztomografie inzwischen nachweisen lässt, dass die Gehirnaktivität im Frontallappen, der unter anderem für Aufmerksamkeit und Impulskontrolle zuständig ist, bei Menschen mit ADHS herabgesetzt ist – und dass Medikamente wie etwa Ritalin den Gehirnstoffwechsel so beeinflussen können, dass viele der Symptome verschwinden oder zumindest abgemildert werden. Die Sache ist echt, könnte man also sagen.
ganzheitlich Simcha Chesner will sich jedoch nicht allein auf Medikamente verlassen. Daher hat er ein, wie er es nennt, »ganzheitliches Konzept« entwickelt, das sich nicht der Parole »Bloß keine Pillen« verschreibt, sondern der medikamentösen Behandlung weitere psychologische und pädagogische Methoden zur Seite stellt. Sein Projekt »Idud« (Ermutigung) richtet sich an Grundschüler und setzt auf mehreren Ebenen an: In Gruppenarbeit lernen die Kinder, negative Denkmuster (»Ich bin dumm«) zu durchbrechen und ihr Selbstwertgefühl aufzubauen. Die Pädagogen zeigen ihnen Lerntechniken und Methoden zur Selbstorganisation. Außerdem wird den Lehrern beigebracht, wie sie den Unterricht so gestalten können, dass er Schülern mit Lern- und Aufmerksamkeitsproblemen besser gerecht wird. Denn nicht nur die Kinder sollen sich fremden Normen anpassen, vielmehr soll auch auf ihre speziellen Bedürfnisse eingegangen werden.
Das Idud-Programm hat sich als so erfolgreich herausgestellt, dass es seit diesem Jahr offiziell vom israelischen Erziehungsministerium gefördert wird und in der Zukunft an weiteren Grundschulen eingeführt werden soll. Bei all seinem Engagement geht es Simcha Chesner dabei immer um eines: »Wir wollen unseren Kindern helfen, die zu sein, die sie sind.«