An jedem Morgen kämpft er mit einer gründlichen Rasur und 50 Kniebeugen gegen das Altern. Ohne Disziplin, Anstrengung, gar Qual kein Erfolg, das ist wie beim Schreiben. Auch die kalifornische Sonne muss sich jeden Tag von Neuem durch den Morgennebel kämpfen; bald wird sie »den Vorhang zerreißen, die Fetzen in Dunst auflösen und den Blick freigeben auf die Bühne des Meeres, das unwandelbare Schauspiel von Wasser, Licht und Luft«.
Klaus Modicks Roman Sunset, der Überliefertes aus dem Leben Lion Feuchtwangers mit Fiktion mischt, spielt an einem Augusttag im Jahr 1956. Die meisten Freunde des Schriftstellers und seiner Frau Marta sind nach Europa zurückgekehrt: Chaplin, Hanns Eisler, Bert Brecht und deren Frauen. Andere wie Franz Werfel und Heinrich Mann sind gestorben. Es ist ruhig geworden in der Villa Aurora, dem einstigen Treffpunkt für deutsche Emigranten in Los Angeles.
brecht An diesem Morgen trifft ein Telegramm ein: Brecht ist gestorben. Marta ist in der Stadt, Feuchtwangers Sekretärin hat Urlaub, so ist der 72-Jährige mit seiner Trauer alleine. Den Rest des Tages – und des Romans – versinkt er in Gedanken an sein Leben mit und ohne den »vielleicht einzigen wirklichen Freund seines Lebens«.
Im Winter 1918 war Feuchtwanger bereits ein über seine Heimatstadt München hinaus bekannter Schriftsteller. Brecht, ein literarischer Niemand, suchte den 14 Jahre älteren Kollegen auf und bat ihn, ein Drama zu lesen, das später unter dem Titel Trommeln in der Nacht als sein erstes Stück aufgeführt wurde. Feuchtwanger war sofort fasziniert. Während er sich selbst als Handwerker sah – »sein Instrument ist die Einfühlung, das Medium der historische Roman und seine Voraussetzung die gründliche Recherche« –, erkannte er in Brecht ein »dramatisches Genie«.
Der hitzköpfige und zugleich schüchterne junge Marxist aus Augsburg, der behauptete, nur wegen des Geldes und »wegen der Weiber« zu schreiben, legte scheinbar mühelos perfekt strukturierte Stücke hin, die sich mit der politischen Gegenwart auseinandersetzten und deren Figuren in einer kräftigen, farbigen Sprache sprachen. »Ohne Pathos, authentisch und echt, viel echter, das räumte er nicht ganz neidlos ein, als die Sprache in seinem Thomas Wendt.«
Der bürgerliche Feuchtwanger fühlte sich Brecht, der so ganz anders war als er, bald sehr nah. Fortan diskutierten sie ihre Werke, schrieben gemeinsam, auch im amerikanischen Exil, wo Brechts Stücke nicht aufgeführt wurden und Feuchtwanger ihn weiter protegierte. Während er alltäglichen Angelegenheiten nachgeht, erinnert Feuchtwanger sich an Brechts Ruppigkeit und Dreistigkeit, seine Unlogik, aber auch an seine entwaffnende Ehrlichkeit und Klugheit, seinen Charme Frauen gegenüber und sein Talent, sich von der Rolle als Ernährer seiner vielen Kinder, die er nur mäßig ausfüllte, nicht in seiner Arbeit einschränken zu lassen.
Auch Szenen mit anderen Freunden im Exil tauchen vor Feuchtwangers innerem Auge auf. Und natürlich geht es ums Schreiben: um die Zweifel, das mühsame Zusammentragen von Material, die ständige Suche nach Inspiration – all das beschreibt Klaus Modick sehr plastisch und zart und mit leisem melancholischen Unterton.
münchen Sehnsucht hat Feuchtwanger auch nach München, nach den Wintern vor allem, nach Eisblumen und Schnee, Wörter, die er in Kalifornien nie verwendet. Obwohl er die USA mag, fühlt er sich wie im Gefängnis. Die »McCarthy-Inquisition« klopft ihn regelmäßig auf Kommunistenfreundlichkeit ab, die Einbürgerung wird ihm verweigert, obwohl seine Romane auch hier sehr erfolgreich sind.
Aber er will sich nicht beklagen. Bevor ihn am Mittag die Müdigkeit fortträgt, »nimmt er noch die Geräusche der Welt wahr, wie einer, der sich nach einer sehr langen, mühseligen Wanderung durch fremdes Land im Hotel zur Ruhe legt und den Stimmen und Klängen der fremden Stadt lauscht, einer Stadt, die ihn eigentlich nichts angeht, deren Lebenslust und Freundlichkeit, deren Laster und Niedertracht den Flüchtling, den Vertriebenen nicht berühren«.
Klaus Modick: »Sunset«. Eichborn, Frankfurt/M. 2011,192 S., 18,95 €