Wartenummer A98521. Platz C 12. Der sterile Wartesaal einer Ausländerbehörde ist nicht gerade ein Ort, der zum Verweilen einlädt. Doch so lange man auch auf den Monitor an der Wand starrt, es wird sich nichts tun. Die zugeteilte Nummer und die Platzangabe verändern sich nicht. Auf dem Fernseher direkt daneben geht stattdessen die Post ab.
Reporter, Nachrichtensprecher und Wetterkommentatoren flimmern in Windeseile über den Bildschirm. Männliche und weibliche Stimmen folgen maschinengewehrartig aufeinander, überlappen sich nach einem Wort, verschmelzen und formen schließlich neue Satzfetzen. Der Nachrichtensender CNN als Kakofonie.
Plötzlich ertönt aus dem Raum nebenan ein ohrenbetäubender Knall. War es eine Explosion? Sind zwei Autos zusammengestoßen? Kann sein. Muss nicht sein. Kann man nicht so genau sagen. Die junge Frau gegenüber hat nicht eine Sekunde lang von ihrem Smartphone aufgeschaut. Hat sie den Knall denn nicht gehört? Welche Rolle spielt sie in diesem inszenierten Wartesaal-Theater? Gemächlich steht sie auf und verschwindet in dem abgedunkelten Raum. Vermutlich ist sie eine gewöhnliche Ausstellungsbesucherin. Kann sein. Muss nicht sein. Kann man nicht so genau sagen.
Installation In der Werkschau des israelischen Video- und Filmkünstlers Omer Fast im Berliner Martin-Gropius-Bau ist nichts so, wie es scheint. Realität und Fiktion verschwimmen, gehen ineinander über, präsentieren sich als Antagonismen. Alles ist in irgendeiner Form konstruiert. Wissen ist nicht Macht, sondern ein potenzieller Irrtum. Der 44-Jährige hat für seine erste große Soloausstellung unter dem Titel Reden ist nicht immer die Lösung eigens drei Installationen geschaffen, die er in die Ausstellungsräume integriert hat.
Jeder dieser Räume soll eine Form des Wartezimmers nachbilden, in denen der gebürtige Jerusalemer mit den Jahren nicht einfach nur eine Menge Zeit verbracht, sondern auch kreative Schaffensmomente erlebt hat. Da wären der Wartebereich eines Flughafens, das Wartezimmer eines Arztes und zum Einstieg in die Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion: der Warteraum einer deutschen Ausländerbehörde.
In der Ausstellung wechseln sich diese überaus detailgetreu inszenierten Warteräume mit den abgedunkelten Videoprojektionsräumen ab. Gezeigt werden zusammengefasst sechs ältere Video-Installationen des seit 2001 in Berlin lebenden Künstlers sowie eine neue Arbeit. Die Besucher müssen sich die Videos als aktive Protagonisten der Inszenierung erarbeiten. Als gemeinschaftlich Wartende gestalten sie eine spontane Performance-Einlage. Öffentliches Warten wird zum künstlerischen Happening. Der Einzelne wird zum integralen Bestandteil der Gesamtkonzeption.
Nichts ist verlässlich, alles kann bearbeitet sein. Dieser Ansatz ist ganz im Sinne des neuen Programms »Immersion. Analoge Künste im digitalen Zeitalter« der Berliner Festspiele, in deren Rahmen die Werkschau des israelischen Künstlers präsentiert wird. In der auf drei Jahre angelegten Reihe sollen Ausstellungen gezeigt werden, denen man als Besucher nicht mehr einfach nur gegenübersteht, sondern von denen man automatisch ein Teil wird.
Es ist das gekonnte Spiel mit der Authentizität, das Auflösen der Schnittstelle von Fiktion und Wirklichkeit, das die gezeigten Werke von Omer Fast miteinander verbindet. Gleich ob die Filme und Videosequenzen Geschichten von Krieg und Trauma, Beziehungen und Sex erzählen. Kein Handlungsstrang ist wirklich authentisch, keine Sequenz nicht konstruiert. Man kann nichts und niemandem trauen. Dieses völlige Fehlen von gesicherten Informationen, an die man sich zu gerne wie an einen Rettungsring klammern würde, lässt einen die Videos zunächst mit unwohlem Gefühl schauen.
Negation Die Sehnsucht nach dem Echten wird überwunden, wenn man sich auf Omer Fasts radikale Negation von allem Gewohnten einlässt. »Wie ein Vampir sauge ich die Geschichten von anderen Menschen als Nahrung für mein eigenes Dasein auf«, erklärt der Künstler seinen Ansatz. Der Israeli, der in Boston und New York Kunst studiert hat und 2009 mit dem Preis der Nationalgalerie geehrt wurde, bricht konventionelle Formen filmischen Erzählens.
Wie in seinem Kino-Regiedebüt Continuity, das Mitte November angelaufen ist und in einer kürzeren Version auch im Gropius-Bau gezeigt wird. Der Streifen ist ein verstörendes Kammerspiel über Kriegstraumata, existenzielle Verluste und Identitätskonstrukte. Im Mittelpunkt steht ein junger deutscher Soldat, der nach dem Armeedienst aus Afghanistan nach Hause in die Kleinstadt seiner Eltern zurückkehrt. Diese begrüßen ihn herzlich, doch nach und nach kippt ihre Begegnung ins Unheimliche und Perverse.
Omer Fasts Lieblingsmethode zur kritischen Infragestellung jeglicher Konventionen des Storytelling ist und bleibt aber das Vermischen von Dokumentarischem und Fiktivem. So zum Beispiel in dem Video »Everything That Rises Must Converge«, das ganz am Ende der Ausstellung gezeigt wird. Allerdings nur für Besucher über 18 Jahre.
Los Angeles In der Vier-Kanal-Videoinstallation geht es um Pornos. Zeitweise folgt man vier real existierenden Pornodarstellern in ihrem Alltag in Los Angeles, zeitweise fiktiven Charakteren, die heimlich in die Szenerie eindringen und mit ihren persönlichen Geschichten die Gesamtstory miterzählen. Aus dem Porno-Job-Alltag wird eine Kriminalgeschichte.
Ist der gewitzte Regisseur der Erwachsenfilmchen der Gute? Und ist die frustrierte Ehefrau, die zum Revolver greift, die Böse? Gibt es überhaupt Gut und Böse? Kann sein. Muss nicht sein. Kann man nicht so genau sagen. Nur eines scheint sicher: Reden ist auch nicht immer die Lösung.
Omer Fast: »Reden ist nicht immer die Lösung«. Noch bis 12. März 2017 im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin. Eintritt 11 €, ermäßigt 7 €